Eine Schweizer Milchkuh wird durchschnittlich fünf bis sechs Jahre alt und absolviert in dieser Zeit 3,5 Laktationen, bevor sie zum Metzger geht. Dabei sind die häufigsten Abgangsursachen Fruchtbarkeitsstörungen und Euterkrankheiten. Dem Bund sind die 3,5 Laktationen aber zuwenig. In der Agrarpolitik 2022+ (AP 22+) will er die alten Kühe mit einem Geldbeitrag fördern, mit dem Ziel, dass in Zukunft mindestens 4,5 Laktationen möglich sind, bevor die Kühe abgehen.
Im Detail noch offen
Wie diese Produktionssystembeiträge im Detail aussehen werden, stehe noch offen. «Wir sind momentan am Erarbeiten der Inhalte», sagt das Bundesamt für Landwirtschaft auf Anfrage. Martin Rust, Vizedirektor und Fachbereichsleiter Zucht bei Braunvieh Schweiz beurteilt die Stossrichtung grundsätzlich positiv, sieht aber Schwierigkeiten in der Umsetzung dieser Produktionssystembeiträge: «Ich erachte es als schwierig, über Anreizsysteme den Markt zu beeinflussen. Es wird eine Herausforderung sein, dass das System keine Fehlanreize eröffnet und dass die richtigen Betriebsleiter profitieren können», sagt Rust. Und: «Es wäre beispielsweise falsch, wenn Aufzuchtbetriebe leer ausgingen und auf der anderen Seite Abmelkbetriebe mit dem Zukauf von Alt-kühen einseitig belohnt würden. Damit würde die eigentliche Problematik eher noch verschärft als verbessert», hält er fest.
«Das System ist eine Herausforderung.»
Martin Rust, Vizedirektor und Fachbereichsleiter Zucht bei Braunvieh Schweiz
Schon 18 Mal geschafft
Jeder weiss, wie schwierig es ist, eine 100 000er-Kuh zu züchten und erst noch solange im Stall zu halten. Ein Betrieb, der es nicht nur einmal, sondern sage und schreibe schon 18 Mal geschafft hat, gehört Beat und seinem Vater Werner Dürrenmatt aus Riedstätt BE. «Diesen Sommer war es unsere 18. Kuh, die Joyboy-Tochter Himalaya, eine Swiss-Fleckvieh-Kuh mit Jahrgang 2008», sagt Beat Dürrenmatt. In ihrem Stall sind die Langlebigkeit und die hohe Nutzungsdauer seit Jahren tief verankert. Es gebe Linien, welche dieses Gen einfach weitervererben. Im Stall der Familie Dürrenmatt gab es schon mehrere Mutter-Tochter-Paare, welche die 100 000er-Grenze überschritten. «Zurzeit haben wir sogar eine Kuhfamilie, die in der vierten Generation mit 100 000er-Kühe steht».
Mutterkuh Schweiz begrüsst es
Auch Mutterkuh Schweiz begrüsst den Vorschlag des Bundesamts für Landwirtschaft, in der AP 22+ die alten Kühe zu honorieren. Denn auch in ihrem Verband wird eine hohe Nutzungsdauer angestrebt. Bis Mitte November waren bei Mutterkuh Schweiz 96 21 Mutterkühe registriert, davon waren 15 20 Tiere über zehn Jahre alt. Gemäss den Auswertungen liegt die durchschnittliche Nutzungsdauer der Kühe bei 6,22 Jahren mit 6,55 Nachkommen. Das durchschnittliche Alter der Mutterkühe bei der Schlachtung liegt bei 8,69 Jahren.
Fünf Laktationen und mehr
Für viele Betriebe steht aber nur eines im Vordergrund: Wer nicht liefert, wird aussortiert. Dies ist nicht nur für den Betriebsleiter kostspielig, Kühe mit einer tiefen Nutzungsdauer belasten die Umwelt auch viel mehr als eine Kuh, die mehrere Laktationen abschliesst. Und bei Dürrenmatts? Ihr Ziel ist es, dass jede Kuh mindestens fünf Laktationen bei ihnen absolviert. Denn erst ab der vierten Laktation erreichen die Kühe aus ihrer Sicht die Höchstleistung. «Dank dieser Zuchtphilosophie sparen wir nicht nur Geld, sondern wir können dadurch auch viel mehr junge Kühe verkaufen», hält Beat Dürrenmatt fest. Nicht nur die Genetik und Vererbungskraft spiele dabei eine Rolle, viel wichtiger sei die Haltung und Pflege des Viehbestandes. «Neben viel frischer Luft im Stall ist es wichtig, dass man den Kühen Zeit lässt, auch dann, wenn sie nicht immer gleich wieder tragend werden», empfiehlt der Züchter, der seine 32 Kühe in einem Anbindestall hält. Und noch eines fällt dem Züchter auf: «Damit die Kühe die 100 000er-Grenze erreichen, müssen sie robust sein. Meistens sind es die Kühe, die zuvorderst mit der ‹Zügeltreichel› an die Viehschau laufen», beobachtete er. Und Dürrenmatts müssen es ja wissen: Neben den achtzehn 100 000er-Kühen in ihrem Stall durften sie schon 23 Zuchtfamilien präsentieren.
Zahlen und Fakten
3400 BS- und OB-Kühe haben die 100 000er-Grenze bei Braunvieh Schweiz bisher überschritten.
4821 waren es bei Swissherdbook.
1468 Kühe waren es bei Holstein Switzerland.
Der Betriebsleiter ist wichtig
Wenn es um langlebige Kühe geht, ist sicher der Betrieb, beziehungsweise der Betriebsleiter, der wichtigste Faktor. «Verschiedene Zuchtbetriebe konnten bei uns bereits zehn Kühe und mehr mit 100 000 kg Milch verzeichnen», hält Martin Rust fest. Bei diesen Betrieben sei Management, Fütterung und Tierpflege auf einem extrem hohen Niveau. Die genetischen Voraussetzungen müssen aber natürlich ebenso vorhanden sein. «Oftmals sind es zunächst unauffällige Jungkühe, die sich später als Marathonläuferinnen beweisen. Gewisse Stiere findet man immer wieder in den Pedigrees dieser Kühe», sagt Rust. Meistens seien es Stiere mit guter Leistungsveranlagung kombiniert mit einer starken Eutergesundheit und Fruchtbarkeit. Die noch lebende Braunvieh-Kuh mit der aktuell höchsten Lebensleistung (LL) sei Jason Kenia von Christian Albrecht in Bubikon ZH mit 174 165 kg Milch. Dahinter folgt Carlo Polka von Christian Alpiger in Gams SG mit 160 046 kg. «Absolute Rekordhalterin bei Brown Swiss in der Schweiz ist Studach’s Regal Morchel mit 197 071 kg LL. Sie ist 2010 abgegangen», so Rust.
«Die Kühe müssen willensstark sein.»
Beat Dürrenmatt, Swiss-Fleckvieh-Züchter aus Riedstätt BE
Ist die Zuchtrichtung falsch?
Alte, langlebige Kühe werden heute bei der Stierenbeschaffung für die künstliche Besamung selten mehr berücksichtigt. Seit der Einführung der genomischen Selektion werden dafür vor allem Rinder und junge Kühe ausgewählt. «Mit der Genomik ist das Alter der Stierenmütter zweifellos stark nach unten gegangen. In den meisten Fällen steht aber hinter einer jungen Stierenmutter eine langlebige Kuhfamilie», hält Martin Rust fest. Eine Ausnahme bildet hier die rote und berühmte 100 000er-Schaukuh KHW Regiment Apple, die mit ihrem Sohn Imac Attraction einen jungen Stier im Angebot hat. Aber auch Apple kann nicht alles: Trotz ihrer Langlebigkeit vererbt ihr bekannter Sohn Absolute eine tiefe Nutzungsdauer.