Die Herbstsonne scheint noch kräftig. Der Wohlensee ist ruhig. Auf der Weide liegen die Milchkühe der Familie Jost, dazwischen die Kälber. Was für ein ungewohnter Anblick. Direkt vor uns leckt eine kapitale Holsteinkuh ihr wenige Tage altes Kalb – sein Vater ist ein Angusstier. «Ich lasse nur noch ausgewählte Tiere gesext besamen – etwa vier- bis fünf jährlich. Der Rest trägt Mast», erklärt Lukas Jost.

Der junge Landwirt aus Wohlen im Kanton Bern hat die Milchviehherde auf dem Betrieb, den noch seine Eltern Karin und Alfred Jost bewirtschaften, auf muttergebundene Kälberaufzucht umgestellt. Ab kommendem Jahr wird der vielseitige Betrieb mit Direktvermarktung dann in einer Generationengemeinschaft geführt. «Meine Eltern lassen mir heute bereits viel freie Hand», sagt Lukas – ein richtiggehender Tierliebhaber. Und das scheint auch der Hauptgrund, weshalb der junge Mann in der Milchproduktion einen neuen Weg eingeschlagen hat: Er wollte den Kühen die Kälber nicht mehr wegnehmen.

Regelmässiger Austausch

Lukas Jost hat Besuch von der Tierärztin Cornelia Buchli von der Fachstelle Muka mit Sitz im zürcherischen Birmensdorf. Die beiden stehen in engem Austausch. Eine unentgeltliche Unterstützung, die für den jungen Landwirt wichtig ist. Denn obschon er lange nicht der einzige ist, der in den letzten Jahren diesen Weg eingeschlagen hat, gehört er noch einer Minderheit an.

Die Muka-Betriebe stehen auch mittels Whatsapp-Gruppe im Austausch. «Hier können wir einander Tipps geben», sagt Lukas Jost. Dabei beschäftigen sie ganz unterschiedliche Fragen. Jost nennt als Beispiel die Entwöhnungsphase. Er lässt die Kälber permanent bei ihrer Mutter. Andere Betriebe wählen ein «Teilzeitmodell». Am Tag der Milchleistungskontrolle müssten die Jungtiere allerdings während zwölf Stunden vor der Melkung von den Kühen getrennt werden. «Wir haben uns komplett aus der Viehzucht verabschiedet. Für mich gab es nur ganz oder gar nicht», erklärt der Landwirt auf die Frage, welchen Weg er gewählt hat.

«Für mich gab es nur ganz oder gar nicht.»

Lukas Jost, Bewirtschafter eines Muka-Betriebs in Wohlen BE

Trennung erlernen

AboMilchproduktionDer Weg zur muttergebundenen KälberaufzuchtMontag, 31. Oktober 2022 Wie Cornelia Buchli erklärt, ist die Entwöhnung tatsächlich ein Thema, das viel bewegt. Die Angst vor tagelangem Rufen beschäftigt demnach nicht nur in Betrieben, welche Mutter und Kalb frühzeitig trennen, sondern auch bei der muttergebundenen Aufzucht. Das Patentrezept der Tierärztin leuchtet ein: «Nicht abrupt von 100 auf null.» Die Trennung müsse erlernt werden. Und dabei sei zwischen Phasen zu unterscheiden. Zum einen, wenn das Kalb noch ganz jung sei. Später, wenn es zwar noch unter Beobachtung stehe, aber nicht in konstantem Kontakt mit der Mutter. Hat das Kalb bis zum Entwöhnungsalter 24 Stunden Kontakt, erweist sich die definitive Trennung herausfordernder. «Ich lasse die Kälber in der Herde», erklärt er und zeigt auf der Weide auf ein fünf Monate altes Kalb, das zufrieden daliegt und einen «Milchentwöhner» in der Nase trägt. «Sie rufen nie und lernen rasch, dass die Muttertiere weglaufen, wenn sie kommen und trinken wollen», begründet er.

Entwöhnt von der Milch, gehen die Tiere in diesem Alter entweder auf einen anderen Betrieb zur Weitermast in den IP-Kalbfleischkanal oder werden in einer nahe liegenden Metzgerei geschlachtet und direkt ab Hof verkauft.

Alles möglichst schonend fürs Tier und arbeitstechnisch wie auch wirtschaftlich so sinnvoll wie möglich für die Bauernfamilie. Die Idylle auf der Weide überzeugt. Wie aber sieht die Produktion im Milchviehstall aus, und welche Anpassungen und Inventionen mussten getätigt werden?

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Kalb immer dabei

Im Boxenlaufstall der Familie Jost sind 28 Kühe eingestallt. Hier wird im Dreiertandem gemolken. Lukas Jost hat die Angewohnheit, die jungen Kälber gleich mit zum Melken zu nehmen. So machte er die Erfahrung, dass die Kühe die Milch besser geben. Jost spricht von bis zu zehn Litern, die mehr gemolken werden, wenn das Kalb beim Melken direkt neben der Mutter steht. «Das sind so Tricks, die man sich mit der Zeit aneignet und gerne auch preisgibt», sagt er. Anpassungen sind im Stall aus den Neunzigerjahren zwar nötig gewesen, aber in überschaubarem Rahmen. So mussten beispielsweise die Spaltenböden ersetzt werden, und zwar durch solche, die schmalere Spalten haben. «Man muss meistens etwas anpassen», erklärt Cornelia Buchli. Die Tierärztin hat für Umstellungsbetriebe eine Checkliste zur Hand. In einem ersten Schritt gehe es jeweils darum, Ziele zu definieren und den Stall zu checken. «Danach verfasse ich einen Bericht, anhand dessen wir Varianten ausarbeiten können. Ich versuche jeweils ganz konkrete Pläne vorzulegen», erklärt sie.

«Eine gute Hygiene ist enorm wichtig.»

Cornelia Buchli, Tierärztin bei der Fachstelle Muka.

Auf dem Rundgang durch den leeren Stall – die Kühe und Kälber sind alle auf der Weide – sind nur vereinzelte Elemente zu erkennen, die daran erinnern, dass hier Kälber bei ihren Müttern leben. So zum Beispiel der Kälberstall, der mittels Abschrankung permanenten Zugang zu den Müttern zulässt. Die Jungtiere würden die Rückzugsmöglichkeit nutzen, lägen aber überall im Stall, oft auch vor ihren Müttern in den Liegeboxen. Das bringe mit sich, dass der Mist der Kälber auch überall sein könne. «Eine gute Hygiene ist enorm wichtig», weiss Cornelia Buchli und spricht von einem möglichen Zusatzaufwand bei der Liegeboxenpflege. Alles in allem ist sie aber sicher, dass trotz Aufwand und Mindereinnahmen im Bereich der Milch das System ein Zukunftsmodell ist. Das Interesse an einer solchen Produktionsform steige in der Gesellschaft, aber auch in der Wissenschaft. Die positiven Effekte wurden und werden auch noch weiter wissenschaftlich untersucht. Beispiele sind Studien, die von deutlich weniger gegenseitigem Besaugen berichten. Weiter konnten auch keine oder wenn, dann nur positive Effekte auf die Zellzahlentwicklung in der Milch aufgezeigt werden. Genau das sind aber zwei Bereiche, vor denen sich die Milchbauern fürchten.

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Kein anderes System

Für Lukas Jost scheint diese Phase abgeschlossen. «Wir gehen diesen Weg nun seit rund eineinhalb Jahren», sagt er. Sollte sich in absehbarer Zukunft wider Erwarten zeigen, dass dieser Pfad nicht gangbar ist, gibt Jost die Milchproduktion auf. «Für mich gibt es kein Zurück mehr», ist er sicher. Zurück in ein System, in dem man den Kühen die Kälber wegnimmt, das kann sich der junge Landwirt nicht vorstellen. «Das ist auch der Grund, weshalb ich Kühe nur in Muka-Betriebe verkaufe», ergänzt er. «Sie kennen dieses System, ich will nicht, dass man ihnen die Kälber wieder wegnimmt.»

Dass er für seine Ansichten zum Teil belächelt, aber unter Umständen auch angefeindet wird, ist Lukas Jost bewusst. Das nimmt er in Kauf. Einschränkungen beim Milchabnehmer hat er indes keine. Im Winterhalbjahr geht die «Restmilch», welche ungefähr der Hälfte der früheren Menge entspricht, zur Aaremilch, während im Sommer zusätzlich ein Teil dieser Milch in einer lokalen Käserei zu Käse verarbeitet wird. Das Muka-Mutschli findet Anklang, geschmacklich, aber auch, was dahintersteht. Das System auf dem Hof am Wohlensee überzeugt nicht nur die Familie Jost selbst.

Weitere Informationen: www.mu-ka.ch
Instagram-Kanal des Muka-Hofs Jost: @mukahof_jost