Die Schweiz ist stolz auf ihre Demokratie. Und doch gibt es gute Gründe dafür, warum ein Bürger(innen)rat auch hierzulande sinnvoll wäre – insbesondere zum Thema Ernährung, wie die Trägerorganisationen es Projekts «Ernährungszukunft Schweiz» in Bern vor den Medien darlegten. «Der Bürger(innen)rat ist eine Ergänzung zur Arbeit des Parlaments», erläutere Nenad Stojanović, Politologe an der Uni Genf. Hierzulande sei das Interesse an solchen Gremien sogar grösser als in anderen europäischen Ländern. Im Gegensatz zu den Politikern werden die Bürger nicht gewählt, sondern online oder auf der Strasse rekrutiert und anschliessend ausgelost. Dabei überlassen die Verantwortlichen nichts dem Zufall: Das Marktforschungsinstitut Demoscope wurde mit dieser Aufgabe betraut und stellte sicher, dass die 100 Bürgerinnen und Bürger die Schweizer Bevölkerung repräsentieren. «So ist der Rat ein Spiegel der Bevölkerung», fasste Stojanović zusammen.
Nicht nur Akademiker und Grüne
Michael Buess, Geschäftsleiter von Demoscope, führte das Verfahren auf Nachfrage weiter aus: «Wir haben an gut frequentierten Orten in Städten, Agglomerationen und auf dem Land Menschen angesprochen.» Tatsächlich habe man keine Mühe damit gehabt, Personen ohne höheren Abschluss zu rekrutieren, nur 20 Prozent der Mitglieder des Bürger(innen)rats hätten eine Universität oder Fachhochschule besucht. Es seien im Übrigen auch nicht alles Anhänger der Grünen, sondern nur deren 9 Personen und 11 selbst-deklarierte SVP-Wähler. Mehr als ein Drittel fühle sich keiner Partei besonders nahe, was gut zur Gesamtbevölkerung passe. «Logisch haben die Teilnehmenden am Rat Interesse am Thema Ernährung – aber das ist bei jeder Wahl und jeder Abstimmung so», hielt Buess fest. Als Entschädigung für den Zeitaufwand für 11 physische und virtuelle Treffen sind 500 Franken für die Bürger(innen) vorgesehen. «Es ist ein Mittelweg,», stellte Daniel Langmeier von Biovision klar, «um nicht finanziell schwächere Teilnehmende abzuhalten und gleichzeitig keinen rein monetären Anreiz zu schaffen». Kost und Logis würden im Weiteren übernommen.
SBV und Agrarallianz sind mit von der Partie
Insofern sollte der Bürger(innen)rat eine Vielzahl unterschiedlicher Meinungen und Lebensrealitäten zusammenbringen. Zentral für die Aufgabe des Rats, nämlich die Ausarbeitungen von Empfehlungen für die künftige nachhaltige Ernährungspolitik, ist die Information der Teilnehmenden. Dafür sorgen einerseits 30 Fachleute verschiedener Institutionen und andererseits Inputs von Stakeholder aus der ganzen Wertschöpfungskette. Unter ihnen sind der Schweizer Bauernverband, die Agrarallianz oder die IG Detailhandel. Geplant sind weiter «Lernreisen» zu innovativen Betrieben und Unternehmen des Schweizer Ernährungssystems.
Die Auswahl der Ziele für die Lernreisen ist noch nicht getroffen, so Sabine Lerch von Biovision. Es gehe zwar darum, jene zu zeigen, die «etwas Neues erzählen können», dabei reiche die Spannweite aber beispielsweise von konventionell bis Demeter. Biovision hatte einen Aufruf gestartet, um mögliche Betriebe zu finden. «Bei den Besuchen wird es eine Hofführung geben und anschliessend ein 1-stündiges Gespräch mit den Verantwortlichen», erläutert Lerch. Dabei soll es um Schwierigkeiten beim jeweils vorgestellten Projekt gehen oder um dessen Grenzen.
Moderation begleitet den Meinungsaustausch
Insgesamt werden die Bürgerinnen und Bürger während fünf Monaten über das Schweizer Ernährungssystem aus verschiedenen Perspektiven informiert werden. Eine fachkundige Moderation durch Collaboratio Helvetica sorgt dafür, dass in Diskussionen auch zurückhaltende Stimmen zu Wort kommen. Überhaupt bilden die Gespräche in den 10 Arbeitsgruppen einen geschützten Raum, ist Gabriel Pelloquin überzeugt. Er hat in Deutschland Erfahrungen in einem Klima-Bürger(innen)rat gesammelt. «Populistische, laute Rhetorik hat in diesem Rahmen keine Chance, es stehen Argumente im Vordergrund». Zentral ist, dass neben verschiedenen Meinungen auch Meinungsänderungen möglich sind. Am Ende des Prozesses steht eine Gesamtabstimmung im Bürger(innen)rat über die erarbeiteten Empfehlungen. «Typischerweise sind die Zustimmungswerte am Ende hoch, da die Resultate gemeinsam entwickelt worden sind und die Leute den Prozess kennen».
Das Ergebnis ist offen
Wenn Biovision, Landwirtschaft mit Zukunft (LMZ) und das Schweizer Netzwerk für Nachhaltigkeitslösungen (SDSN) einen Bürger(innen)rat ins Leben rufen wollen, sind Bedenken vorprogrammiert. Doch die Trägerorganisationen unternehmen alles, um das Projekt transparent und ausgewogen durchzuführen. Dazu gehört die Dreisprachigkeit, die Dokumentation der Informationsinputs und die Begleitung durch Medien. Das Ziel sind, wie erwähnt, Empfehlungen an die Politik. Damit diese auch Gehör finden sind drei Bundesämter involviert: Das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW), jenes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) und das Bundesamt für Umwelt (Bafu). Was genau beim Bürger(innen)rat herauskommt, ist offen. «Im Ausland waren die Empfehlungen aus solchen Räten eher progressiver als die Politik», schildert Isabel Sommer von Landwirtschaft mit Zukunft. Für Politiker(innen) kann so klar werden, was die Bevölkerung – eine ausreichende Information vorausgesetzt – mitzutragen bereit ist. «Vielleicht kommt etwas dabei heraus, das uns nicht unbedingt passt», ist sich Sommer bewusst. «Die Bürger(innen) sollen das System verstehen und wo die grossen Hebel zu dessen Transformation sind», so Carole Küng, Co-Leiterin des SDSN. Es sei ein Lernprozess für die ganze Schweiz.
Das Projekt in Kürze
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Am Bürger(innen)rat für Ernährungspolitik werden während fünf Monaten 100 ausgeloste Personen teilnehmen. Sie sind was Bildungsgrad, Hintergrund, Wohnort, politische Gesinnung usw. angeht für die Schweizer Bevölkerung repräsentativ. Damit kommen verschiedene Menschen in Kontakt, die sich sonst nicht austauschen würden und im Gegensatz zur Politik, die mit Interessensvertretern funktioniert, sitzen hier Betroffene am Tisch. Die Bürger(innen) werden umfassend über das Schweizer Ernährungssystem informiert, von Wissenschaftlern wie auch Stakeholdern, jeweils begleitet von fachkundigen Moderatoren. Im Zentrum steht folgende Leitfrage:
Wie soll eine umfassende Ernährungspolitik für die Schweiz aussehen, die bis 2030 allen Menschen nachhaltige, gesunde und tierfreundliche Lebensmittel zur Verfügung stellt, die unter fairen Bedingungen für alle Beteiligten im Ernährungssystem produziert wurden?
Der Start ist für Mitte Juni 2022 vorgesehen, Ergebnisse in Form eines Massnahmenkatalogs für Politik, Verwaltung und die breite Öffentlichkeit sollen im November 2022 vorliegen.
Beteiligte Organisationen:
- Biovision
- Landwirtschaft mit Zukunft
- Das Schweizer Netzwerk für Nachhaltigkeitslösungen (SDSN)
- Collaboratio Helvetica (Moderation)
- Demoscope (Rekrutierung und Auslosung)
- Experten-Panel (Wissenschaftliche Inputs)
- Bundesämter (BLW, BLV, Bafu)
- Vertreter aus der Wertschöpfungskette (u.a. SBV, Agrarallianz, Stiftung für Konsumentenschutz, Umweltallianz, IG Detailhandel, Fial, Allianz Sud und Plattform Agenda 2030, Scienceindustries)
Das Format Bürger(innen)rat
Beim Bürger(innen)rat handelt es sich um einen deliberativen Prozess, bei dem Teilnehmende ausgelost werden. Im Ausland gab bzw. gibt es bereits verschiedene solcher Räte zu unterschiedlichen Themen, etwa zum Klima (Deutschland und Frankreich) oder Abtreibung (in Irland). Bürger(innen)räte sind ein von der OECD empfohlenes Instrument zum Dialog mit der Bevölkerung und auch der Aktionsplan des Bundes «Nachhaltige Entwicklung 2030» sieht vor, dass der Bundesrat die Transformation hin zu nachhaltigen Ernährungssystemen durch Dialoge mit einer repräsentativen Gruppe betroffener Menschen begleitet. Im kleinen Rahmen hat Landwirtschaft mit Zukunft das Prinzip in einem «Ernährungsparlament» getestet, gute Erfahrungen damit machte der Genfer Politologie Nenad Stojanović. Städte, Kantone und die Bevölkerung selbst haben laut ihm nach Pilotversuchen ihr Interesse bekundet und es sind weitere Räte geplant, etwa zur Quartiergestaltung in Lausanne oder der Weiterentwicklung des Kantons Genf.