Der Herdenschutz und seine Wirksamkeit ist in der Wolfsdiskussion ein wichtiger Punkt. Nicht zuletzt sieht das Konzept Wolf Schweiz vor, dass ein Zusammenleben von Wolf und Mensch «ohne unzumutbare Einschränkungen in der Nutztierhaltung» möglich sein soll. Gerade mit grösser werdender Wolfspopulation führt da kein Weg am Herdenschutz vorbei. Um Wolfsmanagement-Massnahmen in Zukunft besser ein- und umsetzen zu können, haben Agridea und die Stiftung Kora Daten für die Schweiz ausgewertet.
Wenige Hotspot-Weiden sind stark betroffen
In den meisten Kleinvieh-Sömmerungsregionen im Wolfsgebiet habe es keine Schäden an Nutztieren gegeben (in 68 Prozent der 360 untersuchten Alpen mit potentieller Wolfspräsenz) – auch in Jahren, in denen Wölfe nachweislich in der Gegend waren. In der Analyse berücksichtigt wurden Daten aus den Kantonen Bern, Freiburg, Glarus, Graubünden, Luzern, Nidwalden, Obwalden, St. Gallen, Schwyz, Uri und Wallis. Die erforderlichen Angaben seien aber nicht von allen Kantonen und für alle Jahre (von 2004 bis 2019) zur Verfügung gestellt worden, was die Analyse laut den Autoren erschwert habe.
Grosse Alpen mit vielen Schafen und schwierigem Gelände
Mit den vorhandenen Daten identifizierte man, was eine Hotspot-Weide ausmacht, die in einem oder mehreren Jahren stark betroffen war: Ihr Auftreten sei stark durch die «Verfügbarkeit von Schafen» beeinflusst. Wobei aber auch kleinere Herden betroffen sein konnten. Allgemein sei es auf grossen Weiden in zerklüftetem Gelände und dort, wo viele Schafe über längere Zeit sömmerten, am ehesten zu Schäden gekommen. Hingegen hatte das Weidesystem (also auch ständige Behirtung) kaum einen Einfluss.
Wölfe auf der Durchreise machen am meisten Schaden
Ob in einem Gebiet ein Rudel angesiedelt hat oder Einzelwölfe leben, machte gemäss Kora und Agridea bei der durchschnittlichen Anzahl Risse keinen Unterschied. Hingegen war das Schadensausmass deutlich höher, wenn ein Paar statt eines einzelnen Wolfs nachgewiesen wurde.
Gewisse Wolfsindividuen rissen mehr Nutztiere als andere, wobei Übergriffe bei durchziehenden Einzelwölfe besonders wahrscheinlich waren. «Rund die Hälfte der Einzelwölfe verursachte keine bis wenige Schäden in den Sömmerungsgebieten», heisst es im Bericht.
Die Wirkung von Zäunen konnte nicht abgeschätzt werden
Eines der wichtigsten Werkzeuge im Herdenschutz sind Elektrozäune. Zwar konnten die Fachleute Daten zu den vom Bund geförderten Zaunsystemen verwenden, die häufig eingesetzten kleineren, 90 Zentimeter hohen Weidenetze oder Litzenzäune mit vier Litzen werden aber nicht erfasst.
Obwohl die letztgenannten als Zäune Grundschutz gegen Wölfe gelten, kann daher keine Aussage zu deren Wirksamkeit gemacht werden. Ausländische Fallstudien belegten aber gemäss Bericht die Effizienz von elektrischen Zäunen: Korrekt aufgestellt sollen sie Schäden um 58 bis 100 Prozent verringern können. Hingegen konnte für die Schweiz gezeigt werden, dass Herdenschutzhunde bei Wolfsangriffen die Schäden deutlich reduzieren, sie aber nicht ganz verhindern konnten. Sie seien ausserdem weniger effizient in zerklüftetem Sömmerungsgebieten mit hohem Waldanteil.
Abschüsse scheinen wirksam
«Schadenstiftende Einzelwölfe abzuschiessen, hat sich in der Vergangenheit kurz- bis mittelfristig als wirksame Methode zu Verringerung von Schäden an Nutztieren erwiesen», heisst es weiter. Die Autoren führen das aber nicht auf eine Vergrämung anderer Wölfe zurück, sondern schlicht auf die Tatsache, dass nach dem Abschuss die betroffenen Gebiete eine Weile wolfsfrei blieben. Wie sich die Entfernung von Jungtieren aus Rudeln auswirkt, müsste in einer Wiederholung der Analyse in den kommenden Jahren untersucht werden.
«Ungeschützte Situationen» verschlechtern die Bilanz
Zu Übergriffen auf Wölfe komme es oft dann, wenn Herdenschutzmassnahmen nicht einwandfrei hätten umgesetzt werden können. Solche «ungeschützten Situationen» entstünden beispielsweise bei unzureichender Umzäunung, wenn einzelne Schafe ausserhalb des Nachtpferchs bleiben, bei ungünstigem Wetter, unerfahrenen Hunden oder auf einer grossen Fläche verteilten Herden. Derlei sei mitverantwortlich dafür, dass das Schadensausmass auch mit Herdenschutz nicht auf Null reduziert werden kann, halten Agridea und Kora fest.
«Aufgrund der komplexen Datenlage (eingeschränkte Verfügbarkeit, jährliche Veränderungen, unterschiedlicher Detailierungsgrad) besteht zu verschiedenen Fragestellungen ein beträchtlicher Forschungsbedarf», heisst es abschliessend.
«Nicht verharmlosen»
Man könne sicher die eine oder andere Erkenntnis aus dieser Studie ziehen, meint Erichvon Siebenthal, Präsident des Schweizerischen Alpwirtschaftlichen Verbands (SAV). Ihm ist aber wichtig, dass aufgrund eines wissenschaftlichen Berichts die Lage in den Alpen nicht verharmlost wird. Zumal, wie imBericht erwähnt, die Gebieteteilweise sehr unterschiedlich betroffen sind. «Für mich wird etwas zu sehr betont, dass vielerorts nichts passiere», so von Siebenthal. Und auch wenn der Herdenschutz funktioniere: «Die Anzahl Wölfe in der Schweiz muss auf ein Mass reguliert werden, das eine Alpwirtschaft mit vernünftigem Aufwand ermöglicht.» Nicht zuletzt leide durch gesperrte Wanderwege der Tourismus unterverstärktem Herdenschutz. Der SAV-Präsident hofft für die Regulierung auf die neue Revision des Jagdgesetzes.