Gerade dürfte sich der Bundesrat ähnlich fühlen wie jene Landwirt(innen), die bereits Biodiversitätsflächen im Ackerbau (Acker-BFF) gemäss den neuen Vorgaben angelegt haben: Man greift sich angesichts des politischen Geschehens an den Kopf, rauft sich die Haare und fragt sich, was denn nun gelten soll. Denn der Nationalrat hat überraschend einer Motion zugestimmt, welche die Pflicht zu 3,5 Prozent Acker-BFF vollständig kippen will.
Motion von 2022
Der Vorstoss stammt von Jean-Pierre Grin (SVP, VD), der mittlerweile nicht mehr im Nationalrat sitzt und die Motion vor zwei Jahren eingereicht hat. Sein Waadtländer Parteikollege Jacques Nicolet hat sie übernommen. Ihrem Einreichedatum entsprechend enthält die Motion vor allem Argumente im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine: Insbesondere die Getreideproduktion müsse angesichts einer sich abzeichnenden Knappheit Vorrang haben. So hatten bereits andere argumentiert, etwa Ständerat Beat Rieder (Mitte, VS), und blieben erfolglos. Damals erfolgte die Ablehnung nicht etwa im Ständerat, sondern in der Grossen Kammer – eben jenem Rat, der sich nun auf Anhieb für die definitive Abschaffung der 3,5 Prozent Acker-BFF ausgesprochen hat.
Anpassen oder abschaffen
Bundesrat Guy Parmelin erinnerte in der Debatte am 28. Februar 2024 daran, welchen Auftrag die im Dezember 2023 angenommene Motion Friedli erteilt hatte: einerseits eine Verschiebung der Acker-BFF-Pflicht und andererseits deren Anpassung. Es ist noch nicht lange her, dass im Rahmen des Landwirtschaftlichen Verordnungspakets 2024 die Vorschläge dafür vorgestellt worden sind. «Der Bundesrat bittet Sie aus Gründen der Kohärenz, diese Motion nicht anzunehmen, um Ihre eigene Entscheidung vom letzten Winter zu respektieren», so Parmelin.
Friedli hatte keine Abschaffung der 3,5 % verlangt, da sie dieser Forderung keine Chancen im Parlament eingeräumt hatte. Doch nun scheinen die Karten neu gemischt worden zu sein.
Kompromiss vorgeschlagen
«Der Bundesrat ist überzeugt, dass der Vorschlag im Verordnungspaket 2024 ein vernünftiger Kompromiss ist», stellte Landwirtschaftsminister Guy Parmelin in der grossen Kammer klar. Die 3,5 % ganz zu kippen, widerspreche aber den Entscheiden aus dem letzten Winter und den Forderungen der Motion Friedli. «Es wäre schliesslich auch etwas gegen Treu und Glauben», ergänzte Parmelin. Dieses Argument hatte allerdings bereits in der Diskussion um eine Verschiebung nicht verfangen. Auch stand der Bundesrat mit seiner Ansicht allein da, dass sich das Parlament nicht selbst widersprechen sollte.
SVP-Nationalrat Pierre-André Page etwa sah keinen Widerspruch im Verhalten des Nationalrats, wie er erläuterte: «Das Parlament hat der Verschiebung zugestimmt. Jetzt wollen wir sie verbieten, weil wir gesehen haben, dass sie nichts bringt». Jacques Nicolet bemerkte, der Entscheid zur Verschiebung sei vom alten Parlament gefällt worden.
Knappheit und Proteste
Tatsächlich sind auch die Argumente, die Jacques Nicolet vorbrachte, nicht nur neu. Schliesslich stammt die Motion wie erwähnt aus dem Jahr 2022, als der Krieg in der Ukraine das dominante Thema war. Nicolet nahm aber auch Bezug auf die aktuelle Entwicklung, namentlich die Bauernproteste in Europa und der Schweiz. «Sie schreien ihren Überdruss heraus, vor allem wegen der neuen Massnahmen und Normen, die zudem eine neue administrative Belastung mit sich bringen», erklärte der SVP-Nationalrat. Die Bauern wollten mit dem Produkt ihrer Arbeit einen angemessenen Lebensunterhalt verdienen. «Diese Produktionsflächen der Landwirtschaft zu entziehen, bedeutet, den Bauern ein Stück ihres Arbeitsinstruments zu entziehen», so Nicolet. Ausserdem würden seiner Meinung nach die 3,5 % Acker-BFF die Lebensmittelimporte erhöhen und die Bäckereibranche belasten, die bereits stark unter den derzeitigen Importen von rund 140 000 t Backwaren leiden würde.
Mit alten und neuen Argumenten gelang es, eine 94 Stimmen starke Mehrheit im Nationalrat zu finden. Unter den Ja-Stimmenden sind diverse bäuerliche Vertreter, andere enthielten sich, wenige gehören zu den 89 Ratsmitgliedern, die mit Nein gestimmt haben. Als Nächstes ist der Ständerat am Zug.
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