Die IG Agrarstandort Schweiz (Igas) bekennt sich zu einer «selbstbestimmten, cleveren Annäherung an interessante ausländische Märkte». Beim Thema Grenzschutz gibt sich die Igas sehr viel offener als der Schweizer Bauernverband, der in dieser Sache von einer «heiligen Kuh» spricht, die bewahrt werden muss. Wir haben mit Igas-Geschäftsführer Christof Dietler über die Position der IG gesprochen, die im landwirtschaftlichen Umfeld eher exotisch anmutet.
Die Igas steht für den Austausch innerhalb der ganzen Landwirtschaft, auch über ungemütliche Themen. Beissen Sie beim Grenzschutz auf Granit?
Christof Dietler: Wir beissen doch nicht! Wir zeigen Perspektiven auf, debattieren. Wir thematisieren aktuell, dass wir Akteure der Schweizer Agrar-Szene mehr tun sollten, um das Verhältnis zu Europa zu verbessern. Wir gehen von einer starken, durch die bilateralen Verträge mit der EU gut vernetzten Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft aus. Handelsbeziehungen über die Grenze hinweg sind von substantieller Wichtigkeit und damit Themen wie Zölle, administrative Hürden etc. Also auch der Grenzschutz.
Was ist Ihrer Meinung nach der Grund, dass der Grenzschutz als so unverzichtbar angesehen wird?
Unverzichtbar für wen? Grenzen haben immer zwei Seiten: ein hier und ein dort. Wer exportieren will, findet Grenzschutz doof. Wer importieren will eigentlich auch. Unverzichtbar ist der Grenzschutz bei sensiblen Produkten, für schwache Volkswirtschaften oder schwache Teile von starken Ländern usw. Aber sicher nicht generell.
Wie liesse sich das ändern – gäbe es eine Möglichkeit für einen «sanften Einstieg», um mit kleinen Erfolgen die Gemüter zu beruhigen?
Grenzschutz oder Freihandel sind keine Werte. Es sind einfach legitime Instrument der Volkswirtschaft. Instrumente, die Vor- und Nachteile haben. Vor- und Nachteilen, die bewusst sein sollen, diskutiert werden müssen. Grenzschutz aufzuladen mit Begriffen wie «unverzichtbar», «heilige Kuh» oder auch «Abschottung» ist falsch. Generell und auf die Agrarpolitik bezogen lässt sich sagen: Grenzschutz ist ein extrem unspezifisch z.B. was Nachhaltigkeit, Einkommenssicherung der Bäuerinnen und Bauern oder Innovation betrifft. Gerade im Vergleich mit anderen agrarpolitischen Instrumenten wie Direktzahlungen, Absatzförderung oder Strukturverbesserungen. Das steht in jedem Lehrbuch und darauf weist der Bundesrat immer wieder hin. Das ist gut. Aber er kriegt dafür immer Haue oder auch mal ein vom Parlament verordnetes Denkverbot.
Ist der Käsefreihandel aus Ihrer Sicht eine Erfolgsgeschichte oder hat der gute Absatz von Käse im Ausland gar nicht wirklich mit gesenktem Grenzschutz zu tun?
Der Käsefreihandel mit der EU und die positive Dynamik der Schweizer Käsebranche hat sehr wohl etwas mit Grenzschutz und guten Handelsbeziehungen zu tun. In unserer Igas-Publikation zu Europa lässt sich Hans Aschwanden, Käser und Präsident von Fromarte wie folgt zitieren: «Der Käsefreihandel hat das Unternehmertum und die Innovationskraft der Käsebranche stark verbessert.»
Die Igas hat sich beim Zucker gegen einen gesetzlichen Minimalzoll ausgesprochen. Was wäre Ihre Lösung gewesen, um die Produktion in der Schweiz zu sichern?
Eine Qualitätsstrategie. Also das, was die Branche jetzt macht.
Im Moment ist der Tenor, möglichst viel selbst und im Inland produzieren, um vom Ausland unabhängig zu sein. Würde eine Senkung des Grenzschutzes dem nicht zuwiderlaufen?
Wir haben mit Europa sehr viel gemeinsam. So die Wertschätzung der Qualität der Lebensmittel, die Nachhaltigkeit oder die Stossrichtung der Agrarpolitik. Der Arlberger, Badener oder Elsässer Bauer ist viel mehr ein Kollege als ein fieser Mitbewerber! Und wir haben definitiv nicht die Fläche, um die Schweizer Bevölkerung autark zu ernähren.
Inwiefern müsste Europa in der Grenzschutz-Diskussion ein Thema sein?
Wir sollten uns bewusst sein, dass attraktive Exportmärkte vor unser Haustüre liegen. Wenn wir über Chancen sprechen durch möglichst nachhaltigen Handel: dann bitte in erster Linie zuerst die Chancen mit unseren Nachbarländern nutzen! Da sind Zölle aber v.a. auch stabile Regeln und Beziehungsqualität zu sehen.
Die Arbeitsproduktivität ist in den letzten rund 20 Jahren laut Bericht des Bundesrats um etwa 30 Prozent gestiegen . Wie ist das Ihrer Meinung nach möglich gewesen?
Die Schweizer Bäuerinnen und Bauern sind gut ausgebildet, marktnah, nutzen die technologischen Entwicklungen, sind clever und innovativ.
Was heisst das im Zusammenhang mit dem Grenzschutz?
Zumindest das Ziel zu haben, attraktive Märkte im Ausland zu gewinnen und keine Marktanteile im Inland zu verlieren. Sicher keine neuen Schutzwälle aufbauen, das System generell vereinfachen.
Was wäre der Vorteil, wenn die Landwirtschaft selbst den Grenzschutz hinterfragen würde?
Eigener Wille, eigene Analyse ist immer viel attraktiver als Opferrolle oder «heilige Kühe». Die Kosten- und Preisdifferenz zum Ausland anzusehen ist eine Gepflogenheit, die jede Branche machen muss. Alles andere ist gefährlich.
In einem Igas-Positionspapier steht zu lesen, eine Verweigerungshaltung erhöhe das Risiko für Fehlinvestitionen und Wohlstandseinbussen generell, auch beim Grenzschutzes. Können Sie ein Beispiel dafür geben?
Grenzschutz ist ein sehr undifferenziertes Instrument. Es hemmt die Differenzierung der Branche. Das kann zu Investitionen führen, die auf Grenzschutz fussen statt auf Marktinnovationen. Der Käsemarkt und der Weinmarkt vor der Liberalisierung sind Beleg dafür.
Die erforderlichen Anpassungen müssten im Falle der Verweigerung später umso schmerzhafter nachgeholt werden, heisst es weiter. Sind wir bereits an einem solchen Punkt angelangt, hat die Schweiz zu lange gewartet?
Ja, klar, solche Stimmen gibt es, die das sagen. Und man sollte ihnen zuhören, sich Gedanken machen. «Wir sind noch keine Verlierer, also ist alles OK.», scheint die generelle Haltung zu sein (siehe Bundesrat und Rahmenabkommen). Sind wir ein Volk von zufriedenen «Not yet losern»?
Die Igas fordert eine stärkere Marktausrichtung der Schweizer Landwirtschaft. Der Markt ist aber verzerrt (z. B. Stichwort Margen) und die ganze Inlandproduktion eigentlich ein Entscheid gegen die Wirtschaft, weil es im Ausland billiger ginge. Auch fordert der Markt nicht immer, was ökologisch, agronomisch oder gesundheitlich sinnvoll wäre. Sollte man sich am Markt orientieren?
Die Markorientierung der Schweizer Landwirtschaft lässt sich sehen, hat sich massiv verbessert in den letzten 30 Jahren. Die Zusammenarbeit in der Wertschöpfungskette geschieht stärker auf gleicher Augenhöhe. Der Markt- und Machtgewinn von Labelorganisationen ist grossartig, Direktvermarkter finden Nischen oder generell die Differenzierung am Markt (Käse, Wein, Obst, Gemüse, Rindfleisch) ist erfreulich. Und die Margen werden kleiner, je härter der Wettbewerb ist. Eine sehr effiziente Massnahme als Antwort auf die Stimmen, die sagen, die Margen des Handels seien zu gross, wäre z.B. ein Freihandelsvertrag mit der EU. Wollen wir das?
Generell gilt: sich auf die Bedürfnisse der Konsumentinnen und Konsumenten auszurichten, ist kein schlechtes Rezept. Das tönt in vielen Ohre besser als «Marktorientierung».
Wenn ja, an welchem Markt eigentlich?
Es gibt den Markt nicht. Jeder Betrieb (wir haben noch gut 50'000 Landwirtschaftsunternehmen) hat zu entscheiden oder muss zu entscheiden versuchen, auf welchem Markt er sich bewähren will.
Die Igas nennt es eine Herausforderung, bei einer Marktöffnung alle zu effektiven Gewinnern zu machen. Wie können Ungerechtigkeiten verhindert werden?
Alle zu Gewinnern zu machen, wird schwierig sein. Das Zauberwort hiess mal «Begleitmassnahmen». Das wäre bei neuen Abkommen wieder vorzusehen.
Wie sähe das ideale Schweizer Grenzschutzsystem aus?
Es stärkt die Nachhaltigkeit auf beiden Seiten der Grenze. So steht es in Art. 104a, Buchstabe d der Bundesverfassung. Packen wir’s an!
Auf welche Weise arbeitet die Igas auf dieses Ziel hin?
Klassisches Lobbying wie z.B. für das moderne Handelsabkommen mit Indonesien. Wir haben einen kleinen Beitrag geleistet im Vorfeld und im Abstimmungskampf. Und: indem wir in Gesprächen wie diesem hinweisen, dass der Grenzschutz differenziert gesehen werden muss. Das gibt kurzfristig keinen Applaus aber mittelfristig vielleicht ein gewisses Verständnis.