Gründe zum Aufgeben hätte es für Jerry Reimer haufenweise gegeben. Er hat sich aber nicht beirren lassen und ist seinem Gefühl gefolgt. In den letzten zehn Jahren hat er mit Unterstützung seiner Familie ein Hydroponie-Unternehmen aufgebaut, das eine ganze Region mit frischem Salat beliefert.
Rund 450 Kilometer nordwestlich von Asunción liegen die Städte Loma Plata, Filadelfia und Neuland. Sie gehören zu den Mennonitenkolonien im paraguayischen Chaco (siehe Infobox). In dieser Region ist die Landwirtschaft zwar Hauptaktivität, allerdings vor allem die Viehzucht und Ackerbau wie der Anbau von Soja, Baumwolle und anderen Nutzpflanzen wie Sesam. Obst und Gemüse wurde bisher aus Asunción oder direkt aus Brasilien importiert.
Überleben im trockenen Klima
Der paraguayische Chaco ist eine weitläufige, trockene Region im westlichen Paraguay, geprägt von flachen Ebenen, geringer Besiedlung und einer einzigartigen, rauen Landschaft. Obwohl die Region erst vor 100 Jahren besiedelt wurde, ist das Wachstum beachtlich: internationale Investoren mit Rinderfarmen von tausenden Hektaren bringen Geld und Arbeit in die Kolonien, und der Ackerbau zieht Spezialisten aus Uruguay und Argentinien an.
Aber das Klima bleibt herausfordernd: Regen fällt bloss etwa 700 mm pro Jahr und die Temperaturen steigen im Sommer (Dezember bis Februar) gut und gerne auf über 45° Grad Celsius. Überleben, nicht unbedingt gesundes Essen, war bis anhin Hauptpriorität der Menschen im Chaco.
Intensive Kultur gesucht
Jerry Reimer wuchs in Loma Plata auf, arbeitete als Möbelschreiner und Bauarbeiter. In seiner Jugend ging er für fünf Jahre zurück nach Kanada, wo seine Mutter herkommt. Im Juli 2012 kam er mit seiner Frau zurück in den Chaco. Seiner Familie gehörten 40 Hektaren Land nahe von Loma Plata und Jerry war klar, dass er dieses nutzen wollte.
Für Viehwirtschaft zu klein, entschied er sich für eine intensive Kultur: Gemüse. «Wenn wir damals gewusst hätten, was das bedeutet, hätten wir wahrscheinlich gar nicht damit angefangen», schmunzelt Reimer heute. Er ging zum Beratungsdienst der Kolonie, der Anbaulizenzen verteilt und die Absatzsicherheit garantiert, im Gemüsebau ein grosser Vorteil. Vom Beratungsdienst erfuhr Jerry, dass einige Bauern bereits seit mehr als zehn Jahren Tomaten anbauten. Dazu kamen im Laufe der Zeit Gurken und Chili. Ihm gaben sie die Lizenz für Kohl.
Kein Glück mit Kohl
«Von meiner ersten Aussaat habe ich nicht einen einzigen geerntet, das war frustrierend», erzählt der Gemüsegärtner, der zu dieser Zeit noch ganz konventionell in der Erde anpflanzte. Im Winter hatte er mit Broccoli und Blumenkohl mehr Glück und konnte einige in der Kooperative verkaufen. Beim dritten Mal pflanzte er mit Unterstützung seiner Eltern viel, aber die Raupen machten alles kaputt.
Im vierten Jahr stand endgültig die Frage im Raum: Machen wir weiter oder geben wir auf? Die Reimers machten weiter, aber ernteten erneut beinahe nichts. Damals hatten sie noch verschiedene Produkte wie Mais, Salat, Kohl, Gurken, die alle verschieden angebaut werden mussten und wo sich der Autodidakt zuerst Erfahrung aneignen musste.
«Damals sagten wir uns: Entweder schliessen wir jetzt oder wir machen weiter und suchen nach einer anderen Lösung», erinnert sich Reimer.
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Der Autodidakt
Er suchte und fand die Lösung in einem Hydroponie-System. «Ein Gewächshaus kommt sehr teuer, wenn man das Gemüse darin normal anbaut. Aber bei der Hydroponie hat man viel mehr Ernte pro Jahr, der Platz kann besser ausgenutzt werden. Ausserdem ist es sehr wassereffizient», sagt der Gemüseproduzent.
Die Eltern verkauften ein Haus, Bruder und Schwestern legten auch Geld zusammen. Mithilfe eines Kredits der Kooperative baute die Familie im Januar 2016 die Hydroponie-Anlage, gründete die Firma Chacofresh, und begann ein paar Monate später zu produzieren. Irgendwann hatten wir die Anlage voller Salat, ein bisschen Petersilie und Rucola. Mit dem Fokus auf wenige Produkte konnten wir den Anbau verfeinern», sagt Reimer, der sich alles in Eigenregie mit Youtube-Videos und Büchern beibrachte.
Ein Salatkopf pro Jahr
Jerry kriegte Anfragen von den umliegenden Kooperativen, ob er ihnen frischen Salat liefern würde und deckt nun alle Städte und kleinen Dörfer im Umkreis ab. «Die Leute essen hier nicht viel Salat. Wir rechnen mit einem Salatkopf pro Kunde und Jahr», berichtet Jerry, der in einer Familie aufwuchs, wo Gemüse täglich auf den Tisch kam. Zum Vergleich: Schweizerinnen und Schweizer verzehren rund 8 Kilo Blattsalat pro Jahr. «Wir nehmen zwar an, dass die Einwoherzahlen in den Kolonien in Zukunft wachsen und wir dadurch mehr Salat absetzen können. Aber wir fühlen uns nun auch bereit, das Sortiment zu erweitern.»
Jerry Reimer experimentiert in seinem Gewächshaus aktuell mit Snackgurken und Cherrytomaten in einem Substrat, das für diese Gemüse einfacher geht als die herkömmliche Hydroponie-Anlage, in denen vor allem Blattgemüse gut wächst.
Im Unterschied zur Hydroponie-Anlage, wo das Wasser in einem Kreislauf immer wieder genutzt wird, braucht das Substrat-System etwas mehr Wasser, ist aber immer noch 50% wassereffizienter als der herkömmliche Anbau.
300‘000 Liter Wasser wird pro Monat geliefert
Chacofresh braucht aktuell 12‘000 Liter Wasser pro Tag. Einmal pro Monat bringt der Lastwagen 300‘000 Liter aus 10 Kilometern Entfernung und Reimer lagert das Wasser in einer mit Folie ausgelegten Grube auf seinem Land. Es dauerte, bis er einen guten Wasserhändler fand: «Die Qualität des Wassers ist für meine Anlage sehr wichtig. Der Salzgehalt muss niedrig und es darf nicht zu lehmig sein.»
In der Region wird Brunnen- oder Regenwasser angeboten. Ersteres hat meistens einen zu hohen Salzgehalt und letzteres weist manchmal noch Spuren von Agrochemikalien auf, beides ein No-Go für Chacofresh. Ausserdem darf das Wasser, das in den Kreislauf eingespiesen wird, die Temperatur von 30 Grad nicht übersteigen, weil sonst die Pflanzen Stresssymptome zeigen.
[IMG 3]In einer selbst entwickelten Zisterne lässt er deshalb das Wasser 3 Meter aus der Höhe in einen Tank fallen, was das Wasser konstant auf einer Temperatur von 28 Grad Celsius hält. Das Wasser wird dann mit Nährstoffen angereichert, die die Pflanze zum Wachstum braucht. Das System ist ausgeklügelt und die Bedienung der Anlage bedarf viel Sorgfalt.
«Ich habe kaum Freizeit. Wenn einer meiner Mitarbeiter an einem Sonntag nicht kommt und die Anlage nicht bedient, sterben die Pflanzen innerhalb weniger Stunden», sagt Jerry Reimer, der lieber selbst ein Auge darauf wirft.
Die mennonitischen Kolonien im Chaco
Die mennonitischen Kolonien im paraguayischen Chaco sind eine Ansiedlung von Menschen dieser protestantischen Glaubensgemeinschaft aus Russland und Kanada. Vielfach haben sie einen deutschen Ursprung und sprechen Plattdeutsch und deutsch. Die ersten Siedler kamen in den 1920er Jahren in diese Region und etablierten hier eine traditionelle, landwirtschaftliche Lebensweise, die sie bis heute fortsetzen. Sie sind nebst den indigenen Gemeinschaften die grösste Einwohnergruppe im paraguayischen Chaco, wo etwa 68’000 Menschen leben.