Bedeutet Stillstand Rückschritt? Oder ist die jüngste Agrarpolitik ein Sammelsurium zum Schaden der Bauern? Dies war die Grundsatzfrage der agrarpolitischen Debatte vom Montagabend im Ständerat. Nach rund zweistündiger Debatte hat er die Sistierung der Agrarpolitik 2022+ (AP 22+) beschlossen. Das Verdikt fiel mit 28 zu 16 Stimmen relativ klar aus. Noch deutlicher wurde das Kommissionspostulat für eine Auslegeordnung über die zukünftige Ausrichtung der Agrarpolitik gutgeheissen (30 Ja, 10 Nein, 2 Enthaltungen).

Als einziger Punkt der AP 22+ blieb der Zahlungsrahmen unbestritten, er wurde vom Ständerat einstimmig angenommen. Dieser beläuft sich für die Jahre 2022-2025 auf 13,774 Mrd Fr. (11,09 Mrd Fr. für Direktzahlungen, 2,119 Mrd Fr. für Produktions- und Absatzförderungsmassnahmen sowie 565 Mio Fr. zur Förderung von Produktionsgrundlagen).  

Elf Gründe für die Sistierung

Hier ein Rückblick auf die Verhandlungen im Ständerat: Peter Hegglin erläuterte zu Beginn der Debatte die Überlegungen der Mehrheit der Wirtschaftskommission des Ständerats (WAK-S). Die Sistierung sei der richtige Schritt, um die Agrarpolitik 2022+ (AP 22+) in den eigenen Reihen zu behalten, währenddem man mit einer Rückweisung an den Bundesrat oder einem Nichteintreten die Vorlage aus der Hand gebe. Hegglin führte folgende Gründe für die rund zweijährige Sistierung der AP auf:

  • Kein dringender Handlungsbedarf für Anpassungen.
  • Bestehende Agrarpolitik wird von Landwirtschaft und Bevölkerung getragen.
  • Keine einzige Stellungnahme verlangte in der Vernehmlassung zu AP 22+ Eintreten in bestehender Form.
  • Die AP bietet der Landwirtschaft keine langfristige Perspektive.
  • Die Vorgaben der Bundesverfassung werden in der AP 22+ nicht umgesetzt.
  • Der Brutto-Selbstversorgungsgrad beträgt 52 % gegenüber 56 % in der aktuellen Agrarpolitik, das entspricht nicht den Bedürfnissen des Landes. Corona zeigt aktuell deutliche Veränderungen, so mussten 4800 t Butter importiert werden, um die Inland-Versorgung zu sichern.
  • Für importierte Lebensmittel sollen keine verschärften Vorschriften eingeführt werden.
  • Komplexe produktionsverteuernde Massnahmen werden mit AP 22+ neu eingeführt.
  • Das Sektoreinkommen nimmt um 265 Mio Fr. jährlich ab.
  • Auf Stufe Einzelbetrieb muss mit substanziellen Verschiebungen gerechnet werden, va. die standortgerechteste Bewirtschaftungsform, die Grünlandwirtschaft, drohe zum Verlierer der AP 22+ zu werden.
  • Die DGVE-Verschärfung im Gewässerschutzgesetz sei nicht konform zu der aktuell herrschenden Kreislaufwirtschaft. 

Stattdessen empfahl Hegglin die Zustimmung zu einem Kommissionspostulat, welches eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Zielen der Agrarpolitik fordert.

Levrat: «Ziemlich unflätig»

SP-Ständerat Christian Levrat sprach namens der Minderheit der WAK-S, das Vorgehen mit Sistierung sei sowohl was Form wie auch was den Inhalt angeht unglücklich. Die Suspendierung der AP für mehrere Jahre und deren Ersatz durch die schwächste Form der Intervention, ein Postulat, sei keine Lösung. Man dürfe die Situation nicht während vier Jahren neutralisieren und einfrieren. Die WAK-S habe Anhörungen zu allen Themen durchgeführt, die vom Mehrheitssprecher aufgeführt wurden. Diese Sistierung sei ein Ablenkungsmanöver. Er bezeichnete es als «ziemlich unflätig», den anderen Rat an der Behandlung der AP 22+ zu hindern. Das entspreche nicht dem Geist der Schweizer Institutionen.

Levrat erklärte im Weiteren, dass mit einer Sistierung nicht die Bauern unterstützt würden, das Gegenteil sei der Fall. So verlange man von den Bauern via Parlamentarische Initiative eine massive Absenkung des Pflanzenschutzmittel-Einsatzes ohne ihnen die entsprechenden Instrumente in die Hand zu geben, welche in der AP 22+ enthalten seien. Durch eine vierjährige Blockade werde man auch gegenüber der EU in Rückstand geraten, warnte Levrat. Er sei durchaus nicht mit allen Punkten der AP 22+ einverstanden, so Levrat, aber sistieren sei keine Lösung. Er erinnerte hier auch an die Ablehnung der Sistierung durch IP-Suisse und Bio Suisse, die zusammen rund 50 Prozent der Bauern verträten. Unterstützung erhielt Levrat von der grünen Ratskollegin Adèle Thorens.

«Ein Sammelsurium von Antworten auf Vorstösse»

FDP-Vertreter Ruedi Noser bat um etwas weniger alarmistische Voten. Wenn sich in den knapp 30 Jahren mit den Vierjahreszyklen etwas gezeigt habe, dann dies, dass man darüber reden dürfe, ob dieses Vorgehen überhaupt Sinn mache. Deshalb sei es richtig, das Postulat anzunehmen, es sei eine Rückkehr zur Gesamtschau, welche die Bauern 2018 noch abgelehnt hätten. Zahlreiche gesellschaftliche Probleme würden auf dem Rücken der Bauern diskutiert.

AP 22+ sei die Dokumentation für eine Konzeptlosigkeit. «Einerseits machen wir Schleppschlauch-Projekte zur Reduktion der Stickstoff-Emissionen und andererseits wird der Anbindestall liquidiert, der 2,5 mal weniger Ammoniak ausstösst als der Laufstall», sagte Noser als Beispiel für zahlreiche Zielkonflikte. Man müsse den Mut haben, diese Widersprüche und Zielkonflikte aufzulösen und herauszuarbeiten, was eigentlich die Ziele der Agrarpolitik sind.

«Wir brauchen einen Paradigmenwechsel», zeigte er sich überzeugt. Der Klimawandel werde viel Agrarland zerstören, so Noser, es werde in zehn Jahren eher ein Kalorienunterschuss herrschen, es brauche deshalb eine Politik für eine intensive und nachhaltige Landwirtschaft: «Wir können nicht einfach alle Lebensmittel im Ausland einkaufen als reiches Land». Ein Investitionszyklus gehe etwa 12 Jahre, deshalb könne man nicht alle vier Jahre eine neue Politik machen. Die AP 22+ sei ein Sammelsurium der Antworten auf die Vorstösse aus dem Parlament, habe er hinter vorgehaltener Hand aus dem BLW gehört.

«Stillstand bedeutet Rückschritt»

Der Bündner Liberale Martin Schmid konnte die Sistierung anders als sein Zürcher Parteikollege Noser nicht unterstützen, während der Sozialdemokrat Roberto Zanetti seinem Parteikollegen Levrat in der ablehnenden Haltung folgte. Er befürchtet, dass es eine AP 26+ wird. Diesen Stillstand könne man sich nicht erlauben. Die Sistierung diene nur dem Zeit- nicht aber dem Erkenntnisgewinn. Eine sichere Bank für die Sistierung waren die SVP-Vertreter: Der Aargauer Hansjörg Knecht plädierte ebenso für die Sistierung wie sein Berner Kollege Werner Salzmann.   

Die grüne Baselländer Ständerätin Maya Graf erklärte, mit der Sistierung erweise man den Bauern einen Bärendienst, weil Stillstand Rückschritt bedeute. Vieles an der AP 22+ gefalle ihr auch nicht, aber es brauche eine Antwort auf die riesigen Herausforderungen, welche auf die Bauern zukommen. Peter Hegglin konnterte, dass man schon heute nahe an den Konsumenten produzieren könne.

Parmelin plädiert engagiert für die AP 22+

Die Sistierung wäre laut Bundespräsident und Agrarminister Guy Parmelin ein Rückschlag für die Bauern im Land. Er erklärte, die AP 22+ sei ein guter Kompromiss und keine Auswahlsendung, wo man die besten Massnahmen rauspicken könne. Sie sei eine ausgewogene Mischung, um neue Herausforderungen anzunehmen und gleichzeitig die negativen Umwelteinflüsse zu vermindern. Er erinnerte auch daran, dass mit der vom Ständerat verabschiedeten Parlamentarischen Initiative (PI) bereits einzelne Elemente der AP 22+ in Kraft gesetzt seien. Gleichzeitig empfahl der Bundespräsident eine Ablehnung des Kommissionspostulats «Zukünftige Ausrichtung der Agrarpolitik».  

Er rief die Ständeräte und Ständerätinnen dazu auf, die AP 22+ zu debattieren, damit könne man vor dem Hintergrund der zwei Pflanzenschutz-Initiativen auch ein kraftvolles Signal ans Stimmvolk aussenden. «Wir zeigen der Bevölkerung so, dass wir ihre Befürchtungen ernst nehmen», so Parmelin. In Sachen Selbstversorgungsgrad erinnerte er daran, dass der Verfassungsartikel 104a nicht eine möglichst hohe Selbstversorgung, sondern ein nachhaltiges Nahrungsmittelsystem verlange, so Parmelin, der letztlich aber in allen Punkten unterlag.  

 

Die Vorschau auf die Debatte

Der Bundesrat will der Landwirtschaft in den Jahren 2022 bis 2025 zwar nicht weniger Geld zur Verfügung stellen, aber die Auflagen für die Direktzahlungen erhöhen, vor allem für mehr Umweltschutz. Der Bundesrat will damit der Pestizidverbots- und der Trinkwasser-Initiative neue Gesetzesbestimmungen entgegenstellen. Solche hat das Parlament allerdings inzwischen selbst ausgearbeitet; die Vorlage ist bei beiden Räten in der Beratung.
Auch beim Tierwohl, der Betriebsentwicklung, der Wertschöpfung am Markt und bei der sozialen Absicherung will der Bundesrat ansetzen. Künftig sollen die Ehepartner, die auf dem Betrieb mitarbeiten, gegen die Risiken Tod und Invalidität sowie gegen Verdienstausfall wegen Krankheit oder Unfall versichert werden müssen. Fehlt diese Absicherung, können die Direktzahlungen gekürzt werden. Auch bei der Ausbildung will Bundesrat höhere Anforderungen festschreiben, damit Direktzahlungen bezogen werden können.
Die Agrarpolitik ab 2022 (AP 22+) besteht aus vier Teilen. Drei davon, nämlich die Änderungen im Landwirtschaftsgesetz, im Gesetz über das bäuerliche Bodenrecht sowie im Tierseuchengesetz, will die Mehrheit der Wirtschaftskommission (WAK-S) sistieren. Dies beantragt sie mit 6 zu 4 Stimmen und bei einer Enthaltung dem Rat.
Die Gesetzesänderungen böten der Landwirtschaft keine langfristige Perspektive und enthielten nur negative Punkte, findet die WAK-Mehrheit. Sie will mit einem Postulat vom Bundesrat Nachbesserungen verlangen.
Sie nennt dazu Selbstversorgung, unternehmerische Freiheit, Nährstoffkreislauf, weniger administrativen Aufwand und nachhaltige Produktion. Spätestens 2022 soll der Bericht vorliegen und erst dann sollen die sistierten Vorlagen behandelt werden.
Die rot-grüne Minderheit der WAK-S ist mit diesem Vorgehen nicht einverstanden: Sie will das Postulat ablehnen und stattdessen die ganze AP22+ beraten. Sonst werde die Gelegenheit verpasst, die Landwirtschaft auf die internationalen Entwicklungen und ökologischen Herausforderungen der kommenden Jahre vorzubereiten.
Auch der Bundesrat ist gegen das Postulat. Könnte das Parlament die Beratung der AP 22+ erst im zweiten Halbjahr 2022 oder gar erst 2023 aufnehmen, könnten die Gesetzesbestimmungen erst Anfang 2025 in Kraft gesetzt werden, schreibt er. Mehrere Jahre Stillstand wären die Folge.
Umweltorganisationen und die Agrarallianz kritisierten den Antrag der Kommissionsmehrheit ebenfalls. Der Bauernverband hingegen sieht eine Chance für eine Diskussion über eine zukunftsgerichtete und kohärente Ernährungspolitik.
Beraten will die WAK-S hingegen den vierten Teil der AP 22+, nämlich den Landwirtschafts-Zahlungsrahmen für die Jahre 2022 bis 2025. Der Bundesrat will ihn stabil halten und für Direktzahlungen insgesamt 13,8 Milliarden Franken zur Verfügung stellen. (sda)