Total ausgehungert und deswegen gereizt und aggressiv? Dieses nicht unbedingt tolle Gefühl kennen wohl die meisten Menschen. Im Englischen gibt es dafür einen schönen Begriff (Achtung, Wortspiel): Hangry. Das setzt sich zusammen aus den beiden Wörtern «hungry» (hungrig) und «angry» (wütend). Auf Schweizerdeutsch würde man das Ganze vermutlich mit einem ä schreiben.
Start-up gegründet
Hängry – das hat nun noch eine weitere Bedeutung, der Name steht nämlich für die Start-up-Firma dreier Lebensmitteltechnolog(innen). Ximena Franco, Sophia Graupner und Valentin Holenstein studieren an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und haben gemeinsam die Hängry Foods GmbH gegründet.
Mit ihrer Geschäftsidee wollen sie gegen Food Waste vorgehen und überschüssige Lebensmittel, die sonst im Abfall gelandet wären, zu vollwertigen Fertigprodukten verarbeiten. Diese könnte man dann ganz einfach in der Mittagspause im Detailhandel kaufen und in der Büro-Mikrowelle erwärmen.
Eine Idee blieb hartnäckig
«Sophia und ich haben uns im Studium kennengelernt, hatten unendlich viele Ideen und wollten gemeinsam eine Firma gründen», erzählt Ximena Franco. Einige Ideen mussten sie wieder verwerfen, entweder weil die Geschäftsidee schon existierte oder anderweitig nicht realisierbar gewesen wäre.
Die nachhaltigen Fertigmenüs aus geretteten Lebensmitteln blieben aber hartnäckig in ihren Köpfen hängen. «Wie es eben so ist, sind wir als Studentinnen viel unterwegs. Wir standen dann jeweils ratlos vor den Regalen im Supermarkt und fanden einfach nichts, das uns reizte und auch noch nachhaltig gewesen wäre», schildert Ximena Franco das Dilemma, das vielen bekannt sein dürfte.
Köchin in den USA
«Nachhaltige Ernährung war mir schon immer wichtig», sagt die gelernte Köchin, die vor ihrem Studium unter anderem in New York (USA) tätig war. Sie arbeitete dort in Restaurants, die der Thematik grosse Bedeutung beimassen und unter anderem eng mit Farmern zusammenarbeiteten.
«Wie gross das Problem Food Waste wirklich ist, wurde mir aber erst während des Studiums richtig bewusst», hält die gebürtige Kolumbianerin fest. Wenn Lebensmittel hergestellt, aber nicht konsumiert werden, führt dies zu CO2-Emissionen, Biodiversitätsverlust sowie Land- und Wasserverbrauch. 25 Prozent der Umweltbelastung unseres Ernährungssystems sind laut Bundesamt für Umwelt (Bafu) auf vermeidbare Lebensmittelverluste zurückzuführen.
Wenn Lebensmittel hergestellt, aber nicht konsumiert werden, führt dies zu unnötigen CO2-Emissionen, Biodiversitätsverlust sowie Land- und Wasserverbrauch. 25 Prozent der Umweltbelastung des Schweizer Ernährungssystems sind laut Angaben des Bundes auf Food Waste (vermeidbare Lebensmittelverluste) zurückzuführen. Dies entspricht etwa der halben Umweltbelastung des motorisierten Individualverkehrs der Schweiz.
Rund ein Drittel aller essbaren Anteile von Lebensmitteln geht zwischen Acker und Teller verloren oder wird verschwendet. Gemäss einer Studie der ETH Zürich aus dem Jahr 2019 zum Food Waste in der Schweiz sind dies pro Jahr rund 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel, die aufgrund des Lebensmittelkonsums der Schweiz im In- und Ausland anfallen. Dies entspricht etwa 330 kg vermeidbaren Lebensmittelverlusten pro Person und Jahr. Zusätzlich fallen in der Schweiz rund 240'000 Tonnen vermeidbare Lebensmittelverluste bei der Produktion von Lebensmitteln für den Export an.
Im April 2022 hat der Bundesrat als Antwort auf ein Postulat einen Aktionsplan gegen Food Waste verabschiedet. Dieser richtet sich an alle Unternehmen und Organisationen der Lebensmittelwirtschaft entlang der Liefer- bzw. Wertschöpfungsketten sowie an Bund, Kantone und Gemeinden. Die drei Ziele: Halbierung der Menge an vermeidbaren Lebensmittelverlusten in der Schweiz bis 2030 gegenüber 2017, Definition von branchenspezifischen Reduktionszielen gemeinsam mit den Branchen, grösstmögliche Reduktion der Umweltbelastung der vermeidbaren Lebensmittelverluste.
Förderpreis gewonnen
Gemeinsam mit Sophia Graupner besuchte Ximena Franco letzten Frühling Existenzgründungsseminare von Innosuisse. Sie entwickelten die Idee für Hängry Foods im Rahmen der Start-up-Challenge an der ZHAW – wo sie prompt den ersten Platz belegten und Fördergelder und andere Unterstützung gewannen. «Wir freuen uns natürlich sehr, dass auch andere an unsere Business-Idee glauben.»
Sophia Graupner ist gelernte Restaurantfachfrau mit Spezialisierung auf Servicemanagement und hat vorher bereits im Labor Haltbarkeiten sowie Lebensmittelhygiene erforscht. Mittlerweile stiess auch noch Valentin Holenstein zum Team. Er arbeitete als Koch in mehreren 5-Sterne-Hotels und war an der Gründung der Firma «Complete» beteiligt. Diese hat sich zur Aufgabe gemacht, Tiere zu 100% zu verarbeiten. «Wir haben gleichzeitig studiert, zwei Start-up-Kurse besucht und dann die Firma gegründet – wir sind schon ein bisschen verrückt», so Franco mit einem Lachen.
Im kleinen Stil getestet
Zu kaufen gibt es die vegetarischen Menüs der Drei allerdings noch nicht – das braucht alles Zeit. «Wir haben nun die Proof-of-Concept-Phase abgeschlossen», erläutert Ximena Franco. Ein Proof of Concept (PoC) dient der Überprüfung der Umsetzbarkeit einer Idee in der Realität, soll also die Machbarkeit der Idee beweisen oder zeigen, ob diese wie geplant funktioniert.
Dafür mieteten sie sich im Binz-Quartier in Zürich in einer grossen Gemeinschaftsküche ein, wo auch andere Food-Produzenten ihre Waren herstellen, erprobten, produzierten Menüs und belieferten Büros damit. Die Lebensmittel dafür erhielten sie von Supermärkten, von kleinen Bioläden und von der verarbeitenden Industrie.
Industriell produzieren
«Wir waren froh, dafür mit bereits existierenden Plattformen zusammenzuarbeiten, die Lebensmittel vor der Vernichtung retten.» Das wird wohl auch künftig so sein, denn alles können sie nicht selbst machen, also etwa zu dritt in einer Küche stehen und die Menüs von Hand selbst in kleiner Zahl herstellen. «Unser Ziel ist eine industrielle Produktion», sagt Ximena Franco. Deswegen sind sie derzeit auf der Suche nach Industriepartnern, aber auch nach potenziellen Abnehmern im Detailhandel.
Gute Arbeitsteilung
Während Valentin Holenstein während der Proof-of-Concept-Phase stark in der Produktion engagiert war, kümmerte sich Ximena Franco um die Kontakte zu den Anti-Food-Waste-Plattformen und den Kunden, um das Vertragswesen und schrieb die Menüs. Sophias Graupner war derweil vor allem im Marketing und der Öffentlichkeitsarbeit engagiert.
Eine Arbeitsteilung, die sie wohl auch in Zukunft beibehalten wollen. «Wir haben ja alle unsere Stärken, diskutieren und entscheiden aber alles gemeinsam.» Zusammen studieren, eine Firma aufziehen und gleichzeitig befreundet sein, sorgt das auch mal für Reibereien? «Natürlich haben wir mal Diskussionen, aber grundsätzlich funktioniert es wunderbar», hält Ximena Franco fest.
Idee muss abheben
Auch die Angst vor dem Scheitern kennen die Gründer(innen). «Wir haben bereits sehr viel Arbeit in unsere Firma investiert, können uns aber noch keinen Lohn auszahlen oder noch ewig gratis arbeiten. Klar – unsere Idee muss zum Fliegen kommen.» Dass ihnen das gelingen wird, davon sind die Drei überzeugt und engagieren sich deshalb mit viel Herzblut für ihre Firma – und gegen Food Waste.
Initiative gegen Food Waste geplant
Sandra Kissling aus Thun BE plant eine Initiative gegen Food Waste, wie kürzlich in der «NZZ am Sonntag» zu lesen war. Vor vier Jahren hat sie einen Laden eröffnet, der gerettete Lebensmittel anbietet. Aus der Frischen Fritz GmbH wurde unterdessen der Verein Fritz & Frieda mit gut hundert Mitgliedern.
Sandra Kissling reicht der bundesrätliche Aktionsplan gegen Food Waste nicht. Sie wünscht sich Regeln wie in Frankreich. Dort müssen Supermärkte, die Nahrungsmittel wegwerfen, anstatt sie zu spenden, seit 2016 Strafen von bis zu mehreren tausend Euro bezahlen. Dasselbe will Kissling auch in der Schweiz: «Genau wie Diebstahl soll auch das Wegwerfen von essbaren Lebensmitteln verboten werden.»
www.fritzundfrieda.ch