Diese Geschichte sollte eigentlich der Abschluss der Serie «Kanada einfach» sein. Nun wurde entschieden, ich solle doch weitererzählen. Stoff dazu gibt es genug! Im Mai und Juni dieses Jahres waren wir wieder in Cecil Lake, wo ich aufgewachsen bin. Fotoalben durchschauen, Familientreffen, Velofahrten durch die Gegend – so viele Erinnerungen an Altes und viel Neues.
Ein grosser Tag für die Jungen
Ende Juni finden die «Graduation Ceremonies», die Schulabschlussfeiern, statt. Anders als in der Schweiz, wo die öffentliche Schule bis zur neunten Klasse geht, gibt es in Kanada erst nach dem zwölften Schuljahr das Diplom. Diese Feier ist ein wichtiger Meilenstein, eher zu vergleichen mit der Lehrabschlussfeier oder dem Kantonsschulabschluss, nur grösser, wie alles in Amerika.
Am 21. Juni schritt die erste Urenkelin meiner Eltern auf dem roten Teppich durch das Hallenstadion in Fort St. John. In langer dunkelroter Robe und mit «Deckelhut» nahm sie unter Applaus der gut 1500 Anwesenden ihr Highschool-Diplom entgegen. Für Lidia Wiebe war es ein grosser Tag, ebenso wie für alle ihre etwa 330 Kommilitonen. Eine Woche zuvor war «Prom», der Galaabend, an dem sich die sonst Jeans tragende Jugend in Ballkleider stürzt. Die Eltern sind stolz und doch etwas betroffen («Ist das wirklich mein kleines Mädchen?») und machen eine Menge Fotos, die sie gerahmt an die Wand hängen oder auf Facebook stellen.
Ich durfte an der Familienfeier für Lidia teilnehmen, welche auf der Ranch meiner Schwester, ihrer Grossmutter, stattfand. Ein Festzelt unter freiem Himmel, rundherum die weiten Weiden, und zum Essen gab es natürlich ein zartes Roastbeef. Die ganze Familie von Lidia war da: Grosseltern von beiden Seiten, Tanten, Onkel, Cousins und Freunde. Wir tanzten auf der Weide zu Countrymusik.
Gekleidet wie eine Prinzessin
Fast fünfzig Jahre früher (ist es wirklich schon so lange her?), im Juni 1975, war ich die Erste in der Lehmann-Familie, die die Highschool abschloss. Meine Mutter sagte damals zu mir: «Wenn eine Graduation so ein grosses Ereignis ist, wie ist dann eine Hochzeit?»
Mein «Prom»-Kleid, ein bodenlanges Stück aus Tüll mit rosa Unterrock, nähte ich selbst. Meine Schwester Margrit war erst sechs Jahre alt und bewunderte ihre grosse Schwester, als ob sie eine Prinzessin wäre – und ich fühlte mich auch so. Sie selbst würde als sechste Lehmann-Tochter über den roten Teppich schreiten und später als erste Lehmann ihr Masterdiplom entgegennehmen. Unsere Eltern waren stolz, obwohl für Dad eine gute Farmerin immer das Höchste war.
Die kanadische Landjugend
Das Kleid war mein letztes 4-H-Projekt. 4-H ist der Landjugendklub Kanadas, aber anders aufgestellt als in der Schweiz. Fast jede Gemeinde hat einen oder mehrere Clubs mit Mitgliedern im Alter von neun bis achtzehn Jahren. Das Ziel ist, der Landjugend praktische Fertigkeiten beizubringen und dass die jungen Leute Fähigkeiten entwickeln, die sie zu mündigen Bürger(innen) und Anführer(innen) machen.
Wir führten die monatlichen Meetings wie ein formaler Verein, wir Jugendlichen waren Präsident und Kassier. Vom ersten Jahr an mussten wir eine Rede vorbereiten und vor dem Club halten, jedes Jahr etwas länger und komplexer. Durch 4-H lernte ich, deutlich zu sprechen und bei einem Vortrag immer das Publikum anzuschauen. Etwas, das mir schon oft nützlich war. Meine Schwester Margrit behauptet, 4-H sei enorm wichtig gewesen als Vorbereitung für ihren beruflichen Werdegang.
Cecil Lake hatte mehrere 4-H-Clubs, etwa den Beef Club, wo die Mitglieder jährlich ein Rind aufziehen, welches am Jahresende an einer Viehschau vorgeführt und dann versteigert wird. Es gab einen Fotoclub und einen Nähclub, dem ich angehörte.
Vom Nähclub auf den Laufsteg
Im ersten Jahr nähte ich eine einfache Schürze mit kleinen roten Erdbeeren und im letzten Jahr eben mein «Prom»-Kleid. Jedes Jahr führten wir einen umfangreichen Ordner zum Projekt. Der grosse Event für den Nähclub war die Modeschau, wo wir unser genähtes Kleid als Modell vorführten, wie auf dem Laufsteg der Fashion-Shows in Paris.
Wir Mädchen liefen den Mittelgang entlang durch die Eltern und Besucher und drehten uns wie die Models. Dann mussten wir auswendig eine kleine Rede halten über unser Kleid. Für die selbstbewussten Mädels mag es ein Vergnügen gewesen sein, für schüchterne, wie ich eine war, war es eine schwierige Herausforderung – bis ich mein «Prom»-Kleid vorführte.
Im letzten Highschool-Jahr hatte ich zu mir gefunden, und so trug ich mein Kleid selbstbewusst und mit Freude. Mit dem Resultat, dass ich einen Platz gewann für den Laufsteg der 4-H-Modeschau an der Pacific National Exhibition in Vancouver. Ich gewann nicht, aber die Teilnahme war für mich ein riesiger Erfolg für meine Entwicklung. Model wurde ich aber nie.
Das Ende der Zeit zu Hause
Mit der Graduation endet für die meisten Jugendlichen, besonders auf dem Land, ihre Zeit zu Hause. Die Ausbildungsstätte wie Universität oder College oder Arbeitsplätze sind meistens weit weg. Das ist ein Nachteil in diesem weitläufigen Land.
Wer Landwirt werden möchte, besucht den zweijährigen Kurs am Agriculture College. Die Lehre, wie wir sie in der Schweiz kennen, gibt es in Kanada nicht. Dafür gibt es in der Highschool eine Holz- und Mechanikerwerkstatt, eine Küche und die kaufmännische Grundausbildung, wie ich sie machte. Das reicht oft schon, um einen Job zu bekommen oder einen Platz am College.