«Guten Morgen, Viktor. Ich wünsche Dir einen wunderbaren Tag», lese ich auf dem Display meines Handys. Die Nachricht ist von «Victoria».
Der Lockvogel
Victoria hat braune Haare und eine schlanke Statur. Sie ist 33 Jahre alt, hat ein eigenes Geschäft und wenn sie mal etwas Freizeit hat, ist sie gerne auf Reisen. Victoria ist aber noch etwas anderes – nämlich ein perfekter Lockvogel. Ihr Ziel? Das sind Männer wie ich beziehungsweise ihre Portemonnaies. Victoria ist eine von zwei Personen, mit denen ich im Rahmen meiner Recherche zum Thema Liebesbetrug zu tun hatte.
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Der «Match»
Kennengelernt habe ich Victoria über die Datingplattform Tinder. Das Prinzip bei Tinder ist einfach. Man(n) oder Frau lädt ein paar Fotos hoch, schreibt einen kurzen Text über sich dazu. Schon hat man ein Profil und kann nach links (Nein) oder nach rechts (Ja) wischen. So legt man fest, wen man denn gerne kennenlernen möchte. Wischen beide Personen dann nach rechts (Ja), kommt eine Verbindung (Match) zustande und sie können sich schreiben. Soviel zum Grundprinzip. Anfang Januar habe ich mit Victoria den Match.
«Das Schwein finden»
Wir unterhalten uns auf Englisch. Victoria lebt ausserhalb der Schweiz. Sie meint, es muss wohl «gematcht» haben, weil sie für ein paar Tage in der Schweiz zu Besuch gewesen sei. Auf ihren Wunsch wechseln wir zur Nachrichtenplattform Whatsapp. Kurz darauf löscht sie in der Dating-App ihr Profil.
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Via WhatsApp schreiben wir weiter. Sie teilt Bilder von sich. Victoria am Strand von Mexiko, Victoria vor dem Gletscher in Argentinien, Victoria mit Freundin beim Kaffee. Immer perfekt gestylt und schön gekleidet. Zur Anreicherung schickt Victoria auch Sprachnachrichten. Ich höre eine weibliche Stimme, sie klingt echt. Wir sind uns am Kennenlernen.
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Ich befinde mich jetzt in der ersten Phase des Betrugs. Im Betrügerjargon bekannt als «find the pig» – auf Deutsch «Finde das Schwein». In dieser Phase geht es darum, eine Zielperson zu finden und eine Beziehung bzw. Vertrauen zu ihr aufzubauen.
«Das Schwein mästen»
Irgendwann, nach etwa drei Wochen, kommt sie auf das Thema Investieren zu sprechen. Sie möchte wissen, ob ich denn auch investiere. Sie sei nämlich sehr erfolgreich.
Ihr Wissen dazu verdanke sie «Yakov», der als selbstständiger Finanzberater arbeite und sie regelmässig mit «heissen» Tipps versorge. Sie fragt, ob ich denn auch an solchen Tipps interessiert wäre, sie würde mal bei «Yakov» fragen.
Die zweite Betrugsphase nennen die Betrüger «fattening the pig», auf gut Deutsch «das Schwein mästen». In dieser Phase sollen die Betroffenen zu einer ersten Einzahlung auf eine vermeintliche Investitionsplattform animiert werden. Anschliessend werden vermeintlich astronomische Gewinne vorgegaukelt. Das Ziel ist, dass das Opfer möglichst viel Geld einzahlt.
«Yakov», der Unternehmer
Das Telefongespräch mit «Yakov» findet via «Telegram» statt. Einem Programm, das zum Verschicken und Empfangen von Nachrichten genutzt wird. «Telegram» gilt an sich als harmlos, geniesst aber in Justizkreisen den zweifelhaften Ruf als Nachrichtenplattform für illegale Aktivitäten.
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Es ist 17 Uhr, als mich «Yakov» anruft. Von seinem Profilbild strahlt mich ein erfolgreicher, etwa 40-jähriger, blonder Herr mit Sonnenbrille an. «Yakov» beginnt zu erzählen. Er habe Frau und Kind, spielte früher erfolgreich Fussball, nach einer Knieverletzung musste er jedoch aufhören.
Danach folgte das Wirtschaftsstudium, die Arbeit im Finanzwesen und der anschliessende Gang in die Selbstständigkeit. Nun sei er unabhängig, dank seiner Einkünfte habe er ein komfortables Leben, er reise viel. Geld oder Investieren sind auch Bestandteile des Gesprächs. «Yakov» möchte einerseits eine persönliche Beziehung aufbauen, andererseits versucht er, mich zu überzeugen, dass ich auf eine Onlineplattform investieren solle.
Ich weiss, was du willst
Wie enttarnt man einen Betrüger, ohne dass er gleich das Gespräch abbricht? Ich habe diese Gedanken schon Wochen im Kopf, denn ich wusste, welches Spiel läuft. Ich beschliesse, die Sprache der Betrüger zu verwenden und «Yakov» zu schmeicheln. Ich lobe die Arbeit der Lockvögel, den sauberen Übergang und auch den Beziehungsaufbau mit dem Ziel der Geldinvestition. «Yakov» ist zuerst sichtlich verwirrt. Erst als ich ihm sage, er könne jetzt seine Rolle ablegen, beginnt er zu lachen.
«Unsere Frauen arbeiten auf der ganzen Welt.»
«Yakov», «selbstständiger Finanzberater» / Tinder-Trading-Scam-Betrüger.
Er könne mir natürlich nicht sagen, wie viele Menschen für seine Organisation arbeiten würden. Er habe aber auf der ganzen Welt Frauen verteilt, die für ihn als Lockvögel arbeiten. Angst vor der Konkurrenz habe er bis jetzt keine, diese sei noch überschaubar. Im Übrigen habe er tatsächlich mal Wirtschaft studiert, aber auf diese Weise liesse sich jedoch mehr Geld verdienen. Am Schluss bedankt sich «Yakov» für das angenehme Gespräch und verabschiedet sich.
Anschliessend löscht er den Gesprächsverlauf und blockiert mein Profil. Victoria, der Lockvogel, braucht etwas länger. Von ihr werde ich erst am folgenden Tag geblockt.
Das «Schwein» schlachten
Wie geht es für einen Betroffenen weiter, der die Betrugsmasche nicht durchschaut? Dann folgt die dritte und letzte Phase, genannt «butchering the pig», auf Deutsch «das Schwein schlachten». In dieser Phase werden Betroffene dazu gebracht, bis auf den letzten Rappen auf die Plattform zu investieren. Als Grund werden Steuern oder Gebühren erfunden.
Der Umgangston kann jetzt wechseln. Die Betrüger setzen auf Drohungen und Beleidigungen, um ihre Opfer einzuschüchtern. Haben sie dann das Maximum herausgeholt, brechen sie den Kontakt ab und tauchen unter. Die Investitionsplattform ist offline und das Geld weg.
Achtung vor Online-Anlagebetrug
Die im Artikel beschriebene Betrugsmasche ist bekannt als «Tinder Trading Scam». Gemäss Website der schweizerischen Kriminalprävention (skppsc.ch) fällt sie in die Kategorie des Online-Anlagebetrugs.
Gerade in wirtschaftlich unsicheren Zeiten suchen gemäss SKPPSC viele Anleger neuartige Anlageformen mit hohen Renditen. Diese Situation werde von den Betrügern ausgenutzt, die sich als progressive Finanzdienstleister ausgeben und Kleinanleger zu Investitionen verleiten.
Nicht schämen – anzeigen
Wie ging es in meinem Fall weiter? Ich wandte mich an die Kantonspolizei Bern. Material hatte ich mit Chatprotokollen, Fotos und auch dem aufgenommenem Betrugsanruf mit «Yakov» ja genug. Hier informierte man mich, dass ich gerne eine Anzeige machen könnte. Mein Fall würde jedoch nicht prioritär behandelt, da ich ja nicht geschädigt sei und die Polizei aktuell mit sehr vielen Betrugsfällen der Masche «Tinder Trading Scam» konfrontiert sei.
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Die Banden, welche die Betrügereien durchführen, gehen äusserst professionell vor. Sie sind organisiert, psychologisch geschult und wissen genau, wie ihre Opfer ticken und worauf sie ansprechen. Für die «Hintermänner» ist es eine Art perverses Spiel und gleichzeitig die Möglichkeit eines guten und komfortablen Verdiensts.
Wurde man selber Ziel eines Betrugs, soll man keine Scham empfinden, sondern den Fall zur Anzeige bringen. Trotz geringer Aufklärungsquoten (siehe Kasten) wird vereinzelte Täterschaft trotzdem zur Strecke gebracht.
Romance-Scam: Die Aufklärungsquoten sind tief
Im Jahr 2022 wurden gemäss der Schweizer Kriminalstatistik allein im Bereich Cyberbetrug über 22 000 Straftaten gemeldet. Bei 698 Fällen handelte es sich um Liebesbetrug «Romance Scam», bei 1590 Fällen um Online-Anlagebetrug.
Die Aufklärungsquoten bei Cyberbetrugs-Delikten sind je nach Deliktart tief. Bei «Romance Scam» wurden im 2022 17,9 % der Fälle, beim Online-Anlagebetrug 20 % aller Fälle aufgeklärt.
Gemäss Auskunft der Kantonspolizei Bern liege die tiefe Aufklärungsquote zum Teil an der flexiblen Täterschaft. Diese operiere häufig aus dem Ausland, aus mehreren Ländern heraus. In ihrem Modus Operandi (Art der Durchführung) reagiere sie rasch auf Trends. Aktuell richte sie sich zum Beispiel verstärkt auf Transaktionen im Bereich mit Kryptowährungen (digitale Währungen wie Bitcoin usw.) aus.
Wer ist gefährdet?
Grundsätzlich kann jeder/jede, der auf Partnersuche ist, zum Betroffenen werden. Gemäss Auskunft der Kantonspolizei Zürich handelt es sich bei den Opfern mehrheitlich um alleinstehende Personen ab zirka 40 Jahren.
Ist die Person echt?
Im oben geschilderten Fall lagen folgende Alarmzeichen vor:
Nicht verifiziert: Das Profil auf der Plattform ist nicht verifiziert. Das muss natürlich erstmals nichts heissen, kann jedoch ein Indiz sein.
Stock-Bilder: Die Person verschickt sog. «Stock-Bilder», das sind Fotos aus dem Internet. Dies kann mit der Google-Bildersuche herausgefunden werden.
Plattformwechsel angestrebt: Die angeschriebene Person möchte über eine andere Plattform kommunizieren und strebt einen raschen Plattformwechsel an. Anschliessend löscht sie die Verbindung. Auf diese Weise kann ihr Profil nicht auf der Datingplattform gemeldet werden.
Sprache: Kann ein Indiz sein, zum Beispiel wenn die Person behauptet, aus der Schweiz zu sein, aber kein Mundart versteht.
Keine Videoanrufe: Die Person schickt zwar Fotos/Videos und Sprachnachrichten, es sind aber keine Videoanrufe möglich.
Geld/Investition: Die Diskussion dreht sich irgendwann um das Thema Geld. Es wird gewünscht, erste kleinere Geldbeträge zu überweisen.
Letztlich helfe gemäss Auskunft der Kantonspolizei Zürich auch eine Portion gesundes Misstrauen. Gerade bei Profilen, die allzu fantastisch klingen, sollte ein Alarmlämpchen aufleuchten