Nein, es stimmt nicht, dass nur das Mittelland, die Ostschweiz oder die Romandie «weit» sind. Auch im Berner Oberland mit seinen charakteristisch engen Bergtälern gibt es «offene» Gegenden. Etwa in Reichenbach bei Frutigen, wo sich der Blick auftut bis zum Niederhorn im Osten und auf die Dreitausender des Wildstrubelmassivs. Hier bewirtschaften Tanja und ihr Mann Abraham Aellig-Grossen einen typischen Dreistufen-Bergbetrieb.

Einen Weitblick erhalten

Tanja Aellig ist mit fünf Geschwistern auf einem Hof in Frutigen aufgewachsen, wo Milchwirtschaft und «z Bärg gah» das Leben bestimmten. «Trotzdem bin ich nicht die typische Älplerin», meint sie. «Ich habe nicht unbedingt dieses grosse Reissen, um endlich aufzubrechen.» Das kommt auch daher, dass die umfangreichen Vorbereitungen meist Frauensache sind. Und da ist viel Konzentration gefragt. Einmal oben am Berg, kann Vergessenes nicht einfach «mal so schnell» beschafft werden. Eine KV-Lehre in einem KMU-Betrieb legte die Grundlage für viele weitere Tätigkeiten. Der Export qualitativ hochstehender Zubehörteile für die Flugzeug- und Maschinenindustrie ins Ausland erweiterte damals das Blickfeld von Tanja Aellig. Abrechnungen in Fremdwährungen war eine ihrer Lieblingstätigkeit.

Vom Wert der Landjugend

Als interessierte «Buretächter» engagierte sich Tanja Aellig auch in der Landjugend. Sie amtete als Sekretärin, während ein gewisser Jungbauer namens Abraham «Häm» Aellig als Präsident wirkte. Es kam wie so oft: 2004 zog die damals 26-jährige Frau mit ihrem um zwei Jahre älteren Mann auf dessen väterlichen Hof nach Reichenbach. Per 1. Juni 2006 haben sie diesen übernommen und weiterentwickelt, das Wohnhaus renoviert und drei Kinder grossgezogen. «Der Spagat mit den Kindern war schwierig», schaut Tanja Aellig zurück. Schon früh nahmen sie die Jungmanschaft zu den einzelnen Arbeiten mit. Geschadet habe dies nicht: Die drei Aellig-Kinder haben die Liebe zur Scholle und zu den «Tierleni» mitbekommen. Sandra, Silver, Stella heissen die Kühe etwa, Silas und Simi zwei kleine «Muneli» – liebevoll vom Familienrat so benannt. «Wir haben uns bewusst für die Familie entschieden», meint Tanja Aellig. «Ich hätte es einfach nicht übers Herz gebracht, die Kinder in eine Kita zu geben.»

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Verschiedene Tätigkeiten

Die gleiche Liebe lässt sie den Kühen zukommen, welche die Bäuerin von weit her erkennen und sich von ihr gerne kraulen lassen. Wenn sich die Familie einige Ferientage gönnte, ging es zum Beispiel ins Erlebnisbad Morschach in den Kanton Schwyz. Mit ihrem frohen Geplansche und dem kernigen Dialekt machte die Jungmannschaft damals schnell auf sich aufmerksam. «Es sind gäbige Kinder, lebenstüchtig und angenehm», freuen sich Tanja und Abraham Aellig. Nebst der Familie und dem Betrieb engagierte sich Tanja Aellig seit je in verschiedenen Tätigkeiten. Assistierte sie früher ihre Eltern beim Führen des Zuchtbuchs, so führt sie heute das Sekretariat der Alpwirtschaft Bern.

Als frühere Mitarbeiterin des Schweizerischen Fleckviehzuchtverbands (heute Swissherdbook) und Swissgenetics in Zollikofen, liegen ihr auch agrarpolitische Themen am Herzen. Mit Freude hilft sie bei Alpexkursionen (eine Art Weiterbildung mit geselligem Charakter), Alptaxationen und beim zweitägigen Munimärit in Thun mit. Und ihr Mann Häm? Der gelernte Landwirt absolvierte eine Zweitausbildung als Dachdecker. «Man braucht einen Nebenerwerb», sagt er. Sind die Kühe im Herbst wieder im heimischen Stall, steigt Häm kurz darauf ins «Übergwändli». Nebst dem Broterwerb hat diese Tätigkeit noch einen zweiten Nebeneffekt: «Es gibt Abwechslung und man lernt andere Situationen besser verstehen. Nicht nur Landwirte haben Probleme.» Nebenbei ist Abraham Aellig im Frühling und Herbst auch als Viehschauexperte unterwegs. Zudem ist er Präsident des Viehzucht-Amtsverbands und im Vorstand der Milchgenossenschaft Reichenbach.

«Uf de Alpe obe …»

Nein, immer «herrlich» ist das Leben am Berg nicht, wie es im Volkslied heisst. Aber schön ist es auf unterschiedliche Weise immer. «Als typischer Dreistufen-Betrieb erleben wir den Frühling dreimal», schmunzelt Tanja Aellig. Ende Mai geht es zu Fuss auf die Vorsass auf rund 1100 Meter, anschliessend auf die Engstligenalp oberhalb Adelboden, auf 2200 m ü. M. Auf der Alp bietet die Direktvermarktung einen willkommenen Nebenerwerb. «Die Türe ist weit offen, Käse und Nidletäfeli sind parat», lacht die Bäuerin.

Nebst Stammkunden ist das Publikum sehr gemischt. In Gesprächen kann Tanja Aellig dank ihres breiten Hintergrundwissens aus dem Vollen schöpfen. Komplimente für ihre Kühe «mit Hörnern» freuen sie besonders. Zur «Herde» gehören auch drei Schweine, die nach dem Alpsommer so manches Zvieriplättli aufwerten werden. Zu Tanjas Hobbys gehört das Lesen. Ist sie mal an einem spannenden Buch, muss die Haushaltung halt ein wenig warten. Ein TV-Gerät findet man im stilvoll renovierten Wohntrakt nicht. Zusammen mit der Frauengruppe organisiert sie einmal im Jahr einen Verkaufsstand, und auch die Festwirtschaft an den Viehschauen gehört in ihr Ressort.

Für das Augenmass

Und die Reizworte wie Wolf und Massentierhaltung? «Die Massentierhaltungs-Initiative betrifft uns kaum», schätzt Tanja Aellig. Ein Verbot für Anbindeställe fände sie extrem. «Wir platzieren die Tiere mit Überlegung. Den Tieren ist es wohl.» Und: «Jeder Betriebsleiter sollte selber entscheiden können.» Bleibt auch der Wolf bis jetzt kein grosses Thema? Anfang Mai wurde das erste halb tote Schaf aufgefunden. «Wölfe sind gerissene Tiere», ist die Bäuerin überzeugt. «Man darf sie nicht unterschätzen.

Ein umfassender Schutz ist auf unseren Alpen schlicht nicht möglich.» Es würde sie emotional erschüttern, würde sie eines Tages vom Wolf gerissene Kälbli auf der Weide finden. «Wollen wir wirklich Wölfe in freier Wildbahn und damit das Risiko von noch mehr toten Nutztieren?» Ein Trost bleibt: «Die Lobby für den Tierschutz dürfte beim Rindvieh grösser sein als bei den Schafen.» Und ihr Lebensmotto? «Alles hat Vor- und Nachteile, etwas Schwarz und Weiss. Wir sollten versuchen, das Weisse hervorzuheben.» Mit ihrer positiven Einstellung, ihrem gesunden Pragmatismus gelinge ihr das immer wieder.