In früheren Artikeln hatte ich die Unterschiede zwischen der Schweiz und Argentinien aufgezeigt und wahrlich finden sich mehr Gegensätze als Gemeinsamkeiten. Doch Fussball schafft die Brücke – ob an der EM oder der gleichzeitig stattfindenden «Copa América» sah man bei Schweizer als auch bei argentinischen Fans grenzenlose Begeisterung und grosse Leistungen beider Teams. Doch die Gemüter der Argentinier erhitzen sich aktuell nicht wegen des Fussballs, sondern wegen mehr Essenziellem.
Keine arme Gegend
Javier Milei, der stark polarisierende Präsident, bekam ein umstrittenes Reformpaket von der Abgeordnetenkammer abgesegnet – klar, mit deutlichen Abstrichen gegenüber dem ursprünglichen Entwurf, aber mit wichtigen gesetzgebenden Kompetenzen. Die bewilligten Privatisierungen von einigen staatlichen Unternehmen sowie die gebilligten Geschenke für Grossinvestoren sollen den eingeschlagenen Erholungskurs beschleunigen.
«Argentinien ist eben riesengross und sehr unterschiedlich.»
Die Dimensionen in Südamerika sind aus Schweizer Sicht enorm – entsprechend gross ist die Vielfalt.
Die Angst der unteren Bevölkerungsschicht, durch den Abbau von Sozialleistungen vermehrt finanziell unter Druck zu geraten, führte zu Demonstrationen mit Zwischenfällen. In unserer Gegend haben wir davon nichts mitbekommen. Erst als ein besorgter Anruf meiner Mutter mich darauf hinwies, googelte ich das Thema. Wir sind wirklich weit ab vom «Geschütz».
Die ausgewiesene Armutsziffer von über 55 % ist in Relation zur Geschichte Argentiniens zu setzen, denn 2002/2003 lag sie bereits bei knapp 70 %. Unseren eigenen Beobachtungen in unserer Region zufolge können wir die hohen Ziffern nicht nachvollziehen. Selbst in der nächstgrösseren Stadt Bahia Blanca mit 400 000 Einwohnern sind Obdachlose eine Seltenheit. Man fühlt sich sicher und glaubt, sich in einer blühenden südeuropäischen Stadt wiederzufinden. Argentinien ist eben riesengross und sehr unterschiedlich – und Buenos Aires ist ein Fall für sich.
Eine kleine Sensation
Fakt hingegen ist, dass Milei seine Versprechen einlöst und dabei nicht übertrieben hat, als er eine Schocktherapie vor seiner Wahl ankündigte. Das hat zu extremen Preisschwankungen geführt, von denen die Landwirtschaft auch stark betroffen ist, wie ich im Bericht vom Mai ausführte. Die positiven Aspekte sind selbst von Kritikern nicht von der Hand zu weisen, denn die wöchentliche Inflation ist während des Monats Juni erstmals seit 30 Jahren auf 0 % gesunken, der Staatshaushalt ist seit fünf Monaten in Serie ausgeglichen – eine kleine Sensation.
Abgesehen davon, dass wir nun mit den neu eingeführten 10 000er-Banknoten zahlen können (als wir im Jahr 2020 ankamen, wurden gerade 1000er eingeführt), hat sich für uns nicht viel verändert. Man gewöhnt sich an die starken Preisveränderungen. Wenn etwas zu stark aufschlägt, kauft man es nicht mehr oder stellt es selbst her. Und wenn etwas wieder billig wird, weil der Dollar gegenüber dem Peso stark steigt, dann kauft man auf Vorrat.
Endlich wieder Polenta
Zudem wächst die Anzahl Produkte, die wir selbst herstellen. Nach drei Jahren Unterbruch konnte ich erstmals wieder den Geruch von frisch gemahlener Polenta aus eigener Produktion wahrnehmen – ein sehr befriedigendes Gefühl. Die Maisernte unserer vier Landsorten, die wir zusammen ausgesät hatten, fand im Juni statt.
«Insgesamt vier Tage benötigten wir für die relativ kleine Fläche.»
Mit alter Technik muss man auch auf dem Feld Wartungsarbeiten einplanen.
Nach drei Jahren der manuellen Vermehrung konnten wir erstmals maschinell auf fünf Hektaren ansäen. Mein Lohnunternehmer, der mich stark an Daniel Düsentrieb erinnert, hat sich extra dafür einen Maisbalken für seine alte «Mähdrescher-Dame» gekauft – in üblem Zustand versteht sich. Immer wieder wurde auf dem Feld geflext und geschweisst und nachgebessert. Insgesamt vier Tage benötigten wir für die relativ kleine Fläche.
Frei nach Argentinien-Style
Doch der Aufwand hat sich gelohnt. Der Ertrag ist bei diesen alten Landsorten mit einer bis zwei Tonnen pro Hektare tief, aber dafür ist der Geschmack unübertrefflich. Jetzt muss ich sehen, wie ich das Produkt am besten verkaufe. Aber das ist Argentinien-Style – alles sehr spontan und ohne Plan. Jahre später wird man dann über dieses naive Vorgehen lachen.
Bisher haben sich immer Türen zum richtigen Zeitpunkt geöffnet. Die Luzerne konnte trotz später Saat dank eines milden Herbstes keimen und der Dinkel kam auch schon hervor. Damit die einkehrende Winterruhe genossen werden kann, fehlt nur noch die Saat von Einkorn und Emmer in den nächsten Tagen, sofern der alte Maschinenpark nicht den Einsatz verweigert.
[IMG 2]Zur Person: Mit 40 Jahren wechselte Egon Tschol von seinem Beruf als Finanzanalyst in die Landwirtschaft und übernahm 2009 einen Betrieb von elf Hektaren im schaffhausischen Klettgau. Er stellte auf Demeter und Mischfruchtanbau um. Mit Ehefrau Bea und denzwei Töchtern Fiona und Zoé sowie sechs Pferden wanderte er 2020 nach Argentinien aus, um die erlernte regenerative Landwirtschaft auf einer 15-mal grösseren Fläche uneingeschränkt anzuwenden.